Erzählen mit Kamishibai
Eine alte Kunst neu entdeckt
Kamishibai? Wer vom Kamishibai erzählt, hört oft erst mal eine Frage: Was ist denn das? Und wer mit dem Kamishibai erzählt, erlebt oft etwas Wunderbares: staunende Kinder, lebendige Dialoge, Lust auf Geschichten und Bilder…
Aber der Reihe nach: Kamishibai als Name für einen schlichten Holzrahmen klingt nicht zufällig so „exotisch“. Die damit verbundene bildgestützte Erzählkunst kommt ursprünglich aus Japan. Vorläufer lassen sich dort mindestens bis ins 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückverfolgen. Damals zogen buddhistische Wandermönche predigend durchs Land und nutzten die Methode des Erzählens mit Bilderrollen, um buddhistische Lehren und Weisheiten im Volk zu verbreiten. Auch in weltlichen Zusammenhängen der frühen japanischen Kultur sind Belege für die Bedeutung des Bildererzählens durch sogenannten Bilderklärer nachweisbar.
Wesentliche Eigenschaften
Von seiner zusammengesetzten Wortbedeutung her ist das Wort „Kamishibai“ am besten mit „Papiertheater“ (kami = Papier, shibai = Theater) zu übersetzen. Damit sind tatsächlich zwei wesentliche Eigenschaften benannt: Papier ist immer mit im Spiel, und zwar
in Form von stabilen Bildkarten oder -streifen, mit denen die einzelnen Szenen eines Geschehens illustriert werden. Und der bühnenartige Kamishibai-Rahmen, in dem die szenischen Bilder in besonderer Weise zur Geltung kommen wie auch die engagierte Präsenz des Erzählers, lassen tatsächlich an eine Theatersituation denken. Das Wort „Papiertheater“ findet in unserem Sprachgebrauch jedoch eher Verwendung für Spielformen mit beweglichen Papierfiguren. Diese aber bilden bei der Arbeit mit Kamishibais nur eine von vielen möglichen Varianten.
In Deutschland ist daher eher das Wort „Erzähltheater“ für Kamishibais geläufig. Denn charakteristisch für Kamishibais ist das Erzählen oder Vorlesen zu stehenden Bildern, die im Verlauf einer Geschichte wechseln. Das Kamishibai bezeichnet also einen theaterartigen Rahmen oder Kasten (meistens aus Holz oder Pappe), der diesen Bildern Halt verleiht und die Blicke der Zuschauenden auf das dargestellte Geschehen lenkt.
Im Ursprungsland Japan
erlebte das Kamishibai in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als populäres „Straßenvergnügen“ eine besondere Nutzung und Blütezeit: Kamishibai-Rahmen aus Holz gehörten viele Jahre lang zur Ausstattung von „rollenden Süßigkeiten-Buden“. „Kamishibai-Männer“ fuhren mit ihren Fahrrädern über Land, riefen mit klappernden Holzklötzen die Kinder herbei, präsentierten dann mit Papierbildern im Kamishibai eine Geschichte und kurbelten so den Verkauf ihrer Süßigkeiten an. Das Kamishibai in dieser „Straßenkino-Form“ verlor allerdings mit der wachsenden Beliebtheit von Fernsehgeräten in den 1950ern an Attraktivität – bis die Internationale Kinderbuchmesse in Bologna rund 25 Jahre später das Thema neu vor allem im Kreise von Vermittlern von Kinderliteratur ins Gespräch brachte, das Kamishibai nun auch in Europa und den USA bekannt machte und hier wiederum ganz neue Formen und Einsatzmöglichkeiten entstehen ließ. Jetzt auch in Bibliotheken!
Wie bei jedem Medium – heißt es nun Fernseher, Computer, Radio oder Buch – lassen sich für das Kamishibai mit seinen heutigen Einsatzmöglichkeiten Eigenschaften und Chancen nennen, die das Besondere dieses Mediums ausmachen. Und nicht zuletzt sind Charakter, Qualität und Botschaft der vermittelten Inhalte von entscheidender Bedeutung dabei:
1. Das Kamishibai führt Menschen und Talente zusammen
Die szenische Erzählweise mit Kamishibai eröffnet besondere Chancen für kreative und ästhetische Gruppenerlebnisse – beim Zuschauen ebenso wie beim Gestalten und Vorführen: malen, zeichnen, sprechen, singen, spielen, dichten, schreiben,
fantasieren…
Respekt und Anerkennung für verschiedene Ideen und Ausdrucksformen, gegenseitiges Vertrauen und Behutsamkeit im Umgang mit Gefühlen, aber ebenso die Freude am gemeinsamen Ergebnis und am ästhetischen Erlebnis bringen viele soziale Aspekte mit ins Spiel.
2. Bilder sind gute Begleiter
Das Nebeneinander von Bildmedien und persönlicher Vermittlung bewirkt einen doppelten Effekt: Im Mittelpunkt steht nicht ein „lebloses Medium“, sondern die Vermittlung geschieht dialogisch und persönlich in großer Nähe zu den Zuschauenden und Zuhörenden. Gleichzeitig werden aber auch Erzählhemmungen, Schüchternheit und mögliche Ängste beim freien Sprechen dadurch gemildert, dass sich der oder die Erzählende nicht so „allein“ fühlt vor dem Publikum. Die Bilder erweisen sich hier als verlässliche Begleiter, hinter denen sich niemand verstecken muss, neben denen sich aber jeder gestützt fühlen darf.
3. Körper- , Bild- und Sprachausdruck entwickeln sich in einem lebendigen Wechselspiel
Körperausdruck, bildkünstlerischer - und Sprach- treten bei Kamishibai in ein interessantes Wechselspiel, das verschiedene Akzente zulässt, aber nur in guter Balance gelingt. Der oder die Erzählende als Person mit individueller Stimme, Mimik, Gestik und Ausstrahlung ist in diesem Ensemble nicht weniger wichtig als die Botschaft und Sprachqualität des Textes oder die Ausdruckskraft des Bildes. Dabei ist alles das auf Dialog ausgerichtet: Reaktionen der Zuhörenden fließen als Teil des lebendigen Wechselspiels immer mit ein.
4. Das Kamishibai ist mobil und überall einsetzbar
Das Kamishibai ist handlich, braucht weder einen Stromanschluss noch motorisierte Transportmittel und ist überall dort ganz unkompliziert zu nutzen, wo Menschen sich in kleinerer oder größerer Runde versammeln.
Egal, ob das Kamishibai nun in erster Linie als pädagogisches Hilfsmittel oder Kunstform verstanden und genutzt wird, ob mehr das Lernen, die Ästhetik oder das Vergnügen im Vordergrund stehen, ob dies in Asien, Lateinamerika, den USA, Europa oder anderswo geschieht – diese vier besonderen Eigenschaften und Chancen des Kamishibais öffnen für alle Länder, Traditionen, Kulturen und Zielsetzungen vielfältige Möglichkeiten.
Nimmt man zunächst die klassische Form einer „Kamishibaistunde“ in den Blick, bei der zu einer Geschichte eine fertige Bilderfolge gezeigt wird, sind wiederum vier Eigenschaften dieser Erzählweise charakteristisch:
1. Durchschauen und Staunen in guter Balance
Der sinnlich leicht nachvollziehbare und handhabbare Vorgang des
Bilderwechsels per Hand macht Zusammenhänge durchschaubar,
beinhaltet aber gleichzeitig geheimnisvolle Überraschungs- und
Spannungsmomente.
2. Nähe und Distanz in einem variablen Wechselspiel
Der oder die Erzählende steht mit den Kindern im Blickkontakt und tritt als
Persönlichkeit neben das Bild, in den Dialog mit dem Bild wie mit den
Kindern. Auf der Beziehungsebene ergibt sich so ein variables
Wechselspiel aus Nähe und Distanz, das auch die Kinder zu nutzen
wissen, wenn sie zu Kamishibai-Bildern selbst vor einer Gruppe erzählen.
3. Eigene Gestaltungsmöglichkeiten erfahren
Vom frei zu variierenden Tempo im Fortgang der Geschichte über das Mitteilen eigener Gedanken im Gespräch bis hin zur Entwicklung eigener Geschichten und Bilder sammeln Kinder die Erfahrung, dass sie sich mit eigenen Vorstellungen, Äußerungen und Handlungsspielräumen beteiligen können.
4. Ermutigung und Wertschätzung für Gefühle und Gedanken
(Bilder-)Geschichten in vertrauensvoller Atmosphäre bieten für Gefühle und Gedanken einen „Rahmen“, der als Schutz, Wertschätzung und Ermutigung empfunden werden kann.
Während in den Niederlanden oder der Schweiz das Erzählen mit Kamishibai in Bibliotheken oder pädagogischen Einrichtungen schon seit vielen Jahren weit verbreitet ist, gibt es in Deutschland (noch) keine ausgeprägte Kamishibai-Tradition. Aber das kann sich ändern: In Schleswig-Holstein setzen inzwischen etwa 80 Büchereien das Kamishibai in ihrer Arbeit ein, bei den Hamburger Öffentlichen Bücherhallen gewinnt es ebenso an Popularität und andere Bundesländer wie Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern oder Baden-Württemberg fangen auf verschiedenen Ebenen an, in Büchereien erste Erfahrungen damit zu sammeln. Im Verlagsbereich engagiert sich besonders der Don Bosco-Verlag für das Thema und bietet dazu verschiedene Materialien an. Ein eigenes Internet-Portal vermittelt nicht nur Produktinformationen, sondern liefert vor allem Anregungen und Hilfen für die Praxis: www.mein-kamishibai.de
Susanne Brandt ist Lektorin bei der Büchereizentrale Schleswig-Holstein. Sie hat als Projektkoordinatorin das Kamishibai in den Büchereien Schleswig-Hosteins vorgestellt. Abbildungen zum Teil vom Verlag Don Bosco.
Zum Weiterlesen (Auswahl):
Brandt, Susanne / Gruschka, Helga: Mein Kamishibai. Das Praxisbuch. Don Bosco, München 2012.
Mitschan, Josef: Das Papiertheater Kamishibai im Einsatz für lesefördernde Kinderanimationen. Projektarbeit. Büchereien Wien 2008.
Schüler, Holm: Sprachkompetenz durch Kamishibai. Kreashibai-Verlag, Dortmund 2011
Der Bericht erschien in BiblioTheke 1.2013