Die Kunst, zu glauben
Etwas fehlt. Chronisch. Eine Erfahrung, die alle Menschen machen, immer wieder. Im Alltag fällt diese Lücke nur nicht so auf, weil sich die meisten Menschen angewöhnt haben, sie durch Ablenkung zu füllen: einkaufen, Essen gehen, im Internet surfen, Sex u.v.m. Wer ehrlich mit sich selbst ist, stellt fest: Das funktioniert nicht, die Leerstelle bleibt. Frank Berzbach stieß bei dem Jesuiten (und Mystiker) Michel de Certeau (1925 – 1986) auf den Hinweis, dass diese Erkenntnis mit Mystik zu tun habe. „Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht.“ Die auf diese Erkenntnis folgende Frage „Was ist es dann?“ treibt zur Suche an. Um diese Suche geht es in diesem Buch. Es handelt sich nicht um eine Anleitung, Berzbach umkreist das Thema Mystik im Alltag assoziativ und schreibt über das Anfangen, die Schönheit („Die Schönheit existiert in der Schöpfung als Erinnerung an eine vollendete Liebe, die nicht fragt und nicht zweifelt, die universell gilt.“), die Musik, über – für Berzbach und das Buch ganz wichtig – die Verbindung von Zen-Buddhismus und Christentum („aus allen Religionen können wir etwas lernen, das uns Gott einen Schritt näher bringt“), über das Gebet und das Lesen. Dass Lesen eine Form der Meditation ist, dieser Gedanke taucht in verschiedenen Kapiteln auf und gipfelt in einem Lob der Versenkung in Büchern. „Lesen ist eine stille, liebende Tätigkeit und die gezielte Suche nach Inspiration. Im heilsamen Dialog mit einem schönen Buch liegt unergründliches Potenzial“, heißt es da. Und weiter: „Wer in den Orden der Lesenden eintritt, der weiß sich über Zeiten und Kulturen verbunden mit den Menschen, deren innere Wanderschaft nicht endet.“ Der Zauber von Texten bestehe in ihrer Unvollständigkeit, schreibt Berzbach. In den Leerstellen sei Platz für eigene, auch unbewusste Erfahrungen. In ihnen werden Ideen geboren und Einsichten vorbereitet. Hier entstehen Aha-Erlebnisse, die man getrost als Botschaften des Heiligen Geistes werten darf. Auf diese Weise hilft lesen, sich selbst und die Welt um einen herum zu entdecken und zu verstehen. Mit dem Buch wird man nicht so schnell fertig. Muße und Konzentration sind nötig, denn es bietet reichlich Stoff zum Nachdenken und Nachlesen. Selbst denken ist angesagt, Scheuklappen sind hinderlich. „Ich will zu Gott, aber auf meinem Weg und auf meinen Füßen“, zitiert Berzbach den Religionsphilosophen Romano Guardini, der in der Liturgischen Bewegung und der Jugendbewegung der Weimarer Zeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Als Weggefährten stehen Berzbach u.a. Karl Rahner, Henri Lassalle, Angelus Silesius, Neil Young und Navid Kermani zur Seite. Das auch äußerlich wertvoll gestaltete Buch ist eine Einladung an alle Suchenden innerhalb und außerhalb der christlichen Kirchen, Mystik im eigenen Alltag zu entdecken. (Religiöses Buch des Monats Dezember)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Kunst, zu glauben
Frank Berzbach
bene! Verlag (2023)
222 Seiten : Illustrationen
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Pilgern
Der Pilgerboom der vergangenen Jahrzehnte ist ebenso erstaunlich wie ungebrochen. Auch die Anzahl der Bücher über das Pilgern ist natürlich groß. Innerhalb der spirituellen Pilgerliteratur sticht das Büchlein des Jesuiten Michael Hainz jedoch durch zwei Aspekte heraus, die für die ganze Reihe "Ignatianische Impulse" typisch sind: zum einen durch die bewusst sehr kompakt gehaltene Form, die auch Interessierten mit wenig Zeit sehr entgegenkommt, zum anderen eben durch die direkte Bezugnahme auf die Spiritualität des heiligen Ignatius von Loyola. Ignatius war nach seiner Bekehrung tatsächlich selbst viele Monate lang auf Pilgereise unterwegs - im 16. Jh. eine tiefgreifende Erfahrung -, durch große Teile Spaniens, mit dem Schiff nach Jerusalem, später nach Rom. Aber er verstand auch in den 18 Jahren seiner Sesshaftigkeit in Rom seine ganze Identität weiterhin als die eines armen Pilgers. Es geht bei Ignatius darum nie um das Pilgern nur als individuelle Erfahrung, sondern um das Pilgern als besondere Möglichkeit, "mit Gott und dem gott-menschlichen Pilger Jesus" in Verbindung zu treten. Am Ende fasst der Autor die Botschaft des Buches zusammen in eine wunderbare Verszeile der Schweizer Pilgerin und Dichterin Hildegard Aepli, die auch im Untertitel des Buches anklingt: Es geht beim Pilgern wie im ganzen Leben letztlich nur um eines: "in Gottes Gegenwart hineinzulaufen". - Ein Buch, das erfahrenen Pilgern neue Aspekte aufzeigen kann, Neupilgern viele wertvolle Hinweise für alle Dimensionen des Pilgerns zu geben vermag und selbst denen, die zwar von einer Pilgerreise träumen, aber in absehbarer Zeit keine Gelegenheit dazu haben werden, eine zum Festhalten dieser Sehnsucht ermutigende Ahnung von den auf dem Pilgerweg zu machenden ganzheitlichen spirituellen Erfahrungen vermitteln wird. (Religiöses Buch des Monats November)
Thomas Steinherr
rezensiert für den Borromäusverein.
Pilgern
Michael Hainz
echter (2023)
Ignatianische Impulse ; Band 97
96 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Nimm der Ohnmacht ihre Macht
Ob ein Mensch durch einen Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen wird oder die U-Bahn Verspätung hat und man deshalb einen Termin verpasst: In beiden Fällen sind Menschen diesen Ereignissen ausgeliefert. Melanie Wolfers widmet ihr neues Buch diesen Ohnmachtserfahrungen und beschreibt, wie sich dieses Gefühl verwandeln lässt und Menschen „zu mehr Weisheit und einem couragierten Leben“ führen kann. Außerdem behauptet sie, dass dieses Gefühl auch seine lebensförderliche Seite habe. Im ersten Teil ihres Buches geht sie dem Gefühl auf den Grund: Wenn das Leben einem übel mitspielt, reagieren die meisten Menschen mit Flucht oder Verdrängung. Aber dadurch „gewinnen wir keinen inneren Spielraum gegenüber unseren Gefühlen, sondern binden uns immer mehr an sie. Und wir manövrieren uns … immer tiefer in die Krise hinein“. Die Situation bessere sich erst, schreibt Wolfers, „wenn ich aufhöre gegen sie anzukämpfen und mich in das Unvermeidliche füge“. In der christlichen Spiritualität wird diese Haltung als „Ergebung“ bezeichnet – und ist einigermaßen in Verruf geraten. Wolfers zeigt, dass Ergebung immer noch eine hilfreiche Haltung ist, vor allem, wenn die (typisch katholische) Verbindung zur „Aufopferung“ gelöst wird. Ergebung sei keine Selbstaufgabe, sondern Selbstbehauptung, der erste Schritt aus der Opferrolle. Die Haltung eröffne, so Wolfers, die Möglichkeit zu fragen, wie ich mit der Situation umgehen kann. Damit ist der Weg frei, Fragen zu stellen wie: „Was kann ich aus dieser Geschichte lernen? Wozu fordert mich diese Krise heraus? Worauf kommt es mir jetzt an?“ Doch es gibt auch Situationen, denen sich nichts Gutes abgewinnen lässt. Dann ist die Fähigkeit gefragt, Ohnmacht auszuhalten und Unabänderliches zu erdulden. Dabei sei die biblische Spiritualität eine große Hilfe, ganz besonders natürlich die Psalmen. Deren Beter klagen Gottes rettendes Handeln ein. Hier geht es nicht um Vertröstung auf irgendwann später, sondern um Trost im Hier und Jetzt, betont Wolfers: „Christliche Spiritualität bleibt nicht stehen beim eigenen Ich, sondern öffnet die Augen für die Tränen anderer.“ Ohnmachtserfahrungen lassen sich leichter ertragen, wenn man bereit ist, sich trösten zu lassen – und es Menschen gibt, die diese Not erkennen und bereit sind, Tränen auszuhalten, und die Not nicht mit einem flotten Spruch wegwischen. Im zweiten Teil ihres Buches beschreibt Wolfers sieben Haltungen, die helfen, mit Ohnmachtsgefühlen leichter umzugehen: Dankbarkeit, Freude, Vertrauen, Zuversicht, tatkräftiges Hoffen, Innehalten. Wie der erste Teil wurzeln auch die Gedanken zu diesen Haltungen tief in der christlichen Spiritualität, ohne jedoch die Bereitschaft zu glauben vorauszusetzen. Damit gelingt Wolfers etwas enorm Wichtiges: Sie macht christliche Spiritualität für eine säkulare Gesellschaft fruchtbar, ohne von ihrer eigenen christlichen Überzeugung abzurücken und ohne den Lesenden diese Überzeugung überzustülpen. Auf diese Weise wird christliche Lebenskunst anschlussfähig in einer Gesellschaft, der Glaube eher suspekt geworden ist. Auch das ist ein Weg, mit einer Ohnmachtserfahrung umzugehen: dass das Christentum seine Überzeugungskraft eingebüßt hat. (Religiöses Buch des Monats Oktober)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Nimm der Ohnmacht ihre Macht
Melanie Wolfers
bene! (2023)
205 Seiten : Illustration
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Verabredung mit Gott
„Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt“, heißt es im 1. Petrusbrief. Die Ärztin Raphaela Düchs und der Physiker Georg Düchs lösen mit dem neuen Buch „Verabredung mit Gott“ genau diesen Anspruch ein. Für alle, die nichts oder wenig vom christlichen Glauben wissen, für alle, die Kirche oder Glauben kritisch gegenüberstehen, aber doch mit der Frage nach Gott noch nicht fertig sind, für Firmlinge und Konfirmanden oder für alle, die ihr eigenes Verhältnis zum Glauben einmal wieder neu durchdenken möchten, hat das christliche Ehepaar dieses „neue Glaubensbuch“ geschrieben. Es handelt sich dabei nicht um eine Art von modernem Katechismus, auch wenn auf fast 250 Seiten natürlich viele Glaubensinhalte erläutert werden. Das Buch will vielmehr eine „verständliche Einführung in den Christlichen Glauben geben“, indem es vor allem deutlich macht, was „der Kern des christlichen Glaubens“ ist, was es für das eigene Leben bedeutet, christlich zu glauben und aus diesem Glauben heraus sein Leben zu gestalten. Teil 1 beginnt zunächst nicht mit Gott, sondern mit dem Menschen – der sich selbst in einer großen Widersprüchlichkeit erfährt und sich immer wieder im Leben, spätestens angesichts der eigenen Sterblichkeit der Sinnfrage stellen muss. Und selbst wenn man keine ausdrückliche Antwort auf diese Frage formulieren kann oder möchte, muss doch jede/r von uns eine ganz persönliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens geben, ganz einfach durch die Art und Weise, wie wir leben. Eine mögliche Antwort auf die Sinnfrage ist der Glaube an Gott. Teil 2 handelt dann davon, was Christinnen und Christen glauben. Und weist sofort darauf hin, dass es beim Glauben zuerst einmal nicht um Inhalte geht, sondern um die Begegnung mit Gott, und die ist im Christentum in Jesus Christus gegeben. „Die Erfahrung, persönlich über alle Schranken der Welt hinweg – auch über die Schranke des Todes hinweg – geliebt zu sein, begründet den christlichen Glauben. Diese Erfahrung machten die Anhänger Jesu. Im Blick auf Jesus erkannten sie deshalb Gott selbst.“ Jesus zeigt uns, wie Gott ist, allmächtiger Schöpfer und liebender Vater, dessen Liebe sogar den Tod überwindet. Ein Gott, der ganz Liebe ist, muss aber auch in sich selbst bereits Beziehung sein – dreifaltiger Gott. Teil 3 behandelt die Frage „Wie glauben Christinnen und Christen?“ und erklärt zunächst, wie der Begriff „Glaube“ richtig zu verstehen ist – nicht nur als Vermutung oder Überzeugung, sondern vor allem als tiefes Vertrauen, auf dem man sein ganzes Leben gründet. Ein solcher Glaube kann aber nicht aus eigenem Entschluss kommen, sondern er muss durch eine Erfahrung begründet sein – weshalb niemand für sich alleine glauben kann. Glaube muss empfangen und auch weitergegeben werden. Darum braucht es die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche. In Teil 4 wird gefragt, wie damit umzugehen ist, dass viele Menschen den christlichen Glauben nicht teilen, manche nicht einmal den Glauben an Gott. Und das letzte Kapitel will schließlich dazu einladen, sich auf den christlichen Glauben einzulassen und gibt dafür zahlreiche Anregungen. Indem die Autoren konsequent danach fragen, was denn das für unser konkretes Leben wirklich Entscheidende am christlichen Glauben ist, gelingt es ihnen trefflich, die ebenso befreiende wie beglückende Grunderfahrung des Glaubens ganz in den Mittelpunkt zu stellen, und diese in unverbrauchten, pointierten Formulierungen zu umschreiben: „An Gott glauben bedeutet im christlichen Sinn, ganz einfach zu vertrauen, dass diese Welt einen Sinn hat und dass mein persönliches Leben einen Sinn hat, weil ich ein für allemal liebgehabt bin.“ Allein schon aufgrund solcher Formulierungen lohnt sich die Lektüre wirklich für alle, die dem christlichen Glauben nicht völlig gleichgültig gegenüberstehen.
Thomas Steinherr
rezensiert für den Borromäusverein.
Verabredung mit Gott
Raphaela Düchs & Georg Düchs
benno (2023)
247 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Warum kommen wir auf die Welt, wenn wir doch wieder sterben müssen?
„42“ ist die Antwort auf die „Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“, die der Supercomputer „Deep Thought“ in Douglas Adams Science-Fiction-Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ nach gerade mal 7,5 Millionen Jahren Rechenzeit ausspuckt. Adams wollte mit dieser verrückten Antwort die Suche des Menschen nach dem Sinn des Lebens karikieren. Doch die Frage bleibt. Die Suche nach einer Antwort hilft Menschen, sich einen Reim auf ihr Leben zu machen und die verschiedenen Episoden eines Lebens zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Der ehemalige Tübinger Religionspädagoge Albert Biesinger tut das in seinem Buch anhand einer Frage, die ihm vor vielen Jahren sein damals 13-jähriger Sohn gestellt hat: „Du, Papa, warum kommen wir auf die Welt, wenn wir doch wieder sterben müssen?“ Es sei die Preisfrage seines Lebens geworden, die er sich bis heute stelle, schreibt der inzwischen 75-jährige Autor. Biesinger hat keine fertige Antwort, sondern erzählt von verschiedenen Situationen, in denen dieser Sinn aufschien. Zum Beispiel: „Bin ich auf die Welt gekommen, wenn ich doch wieder sterben muss, um Gott entgegenzuzweifeln?“ Oder: „Bin ich auf die Welt gekommen, wenn ich doch wieder sterben muss, um meine Frau kennenzulernen?“ Oder: Bin ich auf die Welt gekommen, um Gott „auszuleihen“? (Auf diese Idee ist ein Enkel Biesingers gekommen, der Kindern, die von Gott nichts wissen, seinen Gott leihen wollte.) Oder um mit Menschen Leid zu teilen? Diese Frage bewegt Biesinger in vielen Variationen, konfrontiert mit Krankheit, Sterben und Tod in der eigenen Familie genauso wie als Diakon und Notfallseelsorger. Biesingers Erzählungen zeigen, dass die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens vielleicht gerade nicht in großen philosophischen oder theologischen Gedanken liegt, sondern im Klein-Klein des Alltags, in der Nähe, die Menschen anderen Menschen schenken, im Miteinander-Leid-Aushalten. Ein anderer, wichtiger Aspekt steckt in der Frage „Bin ich auf die Welt gekommen, obwohl ich doch wieder sterben muss, um Gott ein Gegenüber zu werden“? Überraschenderweise bezieht sich Biesingers Antwort nur darauf, dass Gott der Urgrund allen Seins ist, vielleicht die Bedingung der Möglichkeit des Urknalls. Doch hinter der Frage steckt mehr: Eines von Biesingers zentralen theologischen Anliegen ist die Stiftung von Gottesbeziehungen, also Möglichkeiten zu schaffen, Menschen, Kinder schon, mit Gott in Kontakt zu bringen, sich selbst als Gottes Gegenüber zu begreifen. Biesingers Geschichten, kurz, lebensnah und oft berührend, kann man nicht ohne innere Beteiligung lesen. Ihre Lektüre führt ganz von selbst dazu, im eigenen Leben nach Antworten auf die Titel-Frage zu suchen (und dafür keine 7,5 Millionen Jahre zu brauchen): Warum sind Sie auf die Welt gekommen, wenn Sie doch sterben müssen? (Religiöses Buch des Monats August)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Warum kommen wir auf die Welt, wenn wir doch wieder sterben müssen?
Albert Biesinger
Patmos Verlag (2023)
110 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Der Sprung in den Glauben
Der italienische Philosoph Gianluca De Candia wendet sich in seinem Buch dem christlichen Glauben in einer ganz eigenen Weise zu, eben als Philosoph, der sich mit der Religion befasst, nicht als Theologe, der immer schon vieles voraussetzt. Dabei ist es ihm sehr wichtig festzuhalten, dass der angesprochene Sprung in den Glauben kein unvernünftiges, kopfloses Hineinstürzen in etwas ganz Unvernünftiges ist. Es geht vielmehr um ein Beziehungsgeschehen, in dem zwar ein vertrauensvolles Sich-Loslassen gefordert ist, das aber letztlich nicht völlig von sich selbst wegführt, sondern gerade in der Hinwendung zum Anderen das Selbst auch näher zu sich hinführt. So wachsen wie in der Freundschaft und in der Liebe auch im Glauben "Vertrauen und Überzeugung sowie Sprung und Wissen, Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis zusammen". De Candia spricht sich darum für eine Haltung des "positiven Vielleicht" aus, das den Zweifel zwar nicht beseitigen, aber ihm gegenüber standhalten und ihn ins Positive wenden kann und so zumindest eine Tür öffnet, den Blick vom Dunklen weg zum Licht hin richtet. In diesem Sinne untersucht der Autor einige existentielle Situationen des Menschen und versucht diese im Sinne eines christlichen In-der-Welt-Seins zu deuten. Ein Ausblick widmet sich dann der Rolle der Engel - für Gott und die Menschen. Die Gedankengänge sind nicht immer ganz einfach und gleich auf Anhieb vollständig zu verstehen - aber das empfindet man keineswegs als Nachteil, da man beim ersten Lesen bereits spürt, dass sie es wert sind, auch mehrmals gelesen und intensiv bedacht zu werden, und dass sie nur deswegen relativ komplex und geheimnisvoll sind, weil auch unser Leben, die Welt so ist. Es ist ein faszinierendes Buch, das in jedem Fall zum Nachdenken anregt, das aber weit mehr anstoßen kann als nur intellektuelle Diskussionen - denn die angesprochenen Fragen sind eben von existentieller Bedeutung. Ein Buch, auf das man sich einlassen muss - dann wird man aber reich belohnt werden.
Thomas Steinherr
rezensiert für den Borromäusverein.
Der Sprung in den Glauben
Gianluca De Candia
Verlag Herder (2023)
144 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Auferstehung jetzt - Ostern als Aufstand
„Ostern ist doch längst vorbei“, werden Sie vielleicht denken, wenn dieser Text Anfang Juni erscheint, „was kommen die da noch mit Ostern und Auferstehung?“ Stimmt. Doch die Fragen, die Ostern und Auferstehung heute aufwerfen, verlieren mit dem Ende der Osterzeit nicht an Bedeutung. Schon der Apostel Paulus hat im Korintherbrief darauf hingewiesen, dass der christliche Glaube mit der Auferstehung steht und fällt (1 Kor 15, 12-19). Peter Trummer erschließt in den 33 kurzen Kapitel seines Buches modernen, von naturwissenschaftlichem Denken geprägten Menschen einen Zugang zum Geschehen an Ostern und zum Auferstehungsglauben auf Grundlage der biblischen Texte. Seine Meditationen sind die Frucht jahrzehntelangen Forschens und Nachdenkens als Neutestamentler in Graz. Die Kapitel folgen den letzten Stationen im Leben Jesu, angefangen mit dem Einzug in Jerusalem und dem Esel, der dabei eine wichtige Rolle spielte. Er schaut jeweils genau hin: Wovon ist die Rede, welche Worte werden verwendet, in welchen Kontext gehört das? Auf diese Weise gewinnt er auch sehr vertrauten Episoden des Kreuzwegs neue Einsichten ab. Dabei bezieht er sich zwar auf die theologische Forschung, formuliert aber sehr verständlich. Eine seiner zentralen Einsichten ist die vom „radikalen Schuldenschnitt“ für den Jesus durch seinen Tod einstand. Nicht im Sinne eines Opfers, sondern als Beglaubigung seiner Botschaft. Wenn wir Jesus glauben, können wir unsere Sünden „ehrlich anerkennen und dennoch aufrecht und in Würde vor Gott stehen“ (S. 51). Das zu begreifen und sich auf Jesu Botschaft vom bedingungslos liebenden Gott einzulassen, ist der erste Schritt zur Auferstehung. Ein weiterer wäre, „im Tod Jesu so etwas wie eine Betroffenheit oder Schmerz Gottes und sein Mitleiden zu entdecken.“ (S. 73) Andernfalls bliebe die Rede von Gottes Liebe eine hohle Phrase und das von Jesus verkündete Gottesbild unvollständig. Um die biblischen Zeugnisse von der Auferstehung richtig einzuordnen, beginnt Trummer bei Paulus. Der schreibt im Galaterbrief, Jesus sei „in“ ihm offenbart worden. Auch der Ausdruck, den er im Korintherbrief verwendet, zeugt von einem geistigen Geschehen. Von da aus interpretiert Trummer die Evangelien und gewinnt auch zu ihnen neue Einsichten. Auferstehung geschieht bereits am Kreuz, im Moment des Todes – für Jesus und für jeden anderen Menschen und bedeutet „unsere volle und letztgültige Annahme durch Gott“, der uns im Tod „aufrichtet“ (S. 134). Peter Trummer gelingt es, Ostern und Auferstehung von dem Verdacht zu befreien, es handle sich um eine vielleicht irgendwie tröstliche „Geschichte“ ohne Konsequenz für das richtige Leben. Er öffnet Kopf und Herz für ein Verständnis von Ostern, das im Hier und Jetzt bestehen kann. (Religiöses Buch des Monats Juni)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Auferstehung jetzt - Ostern als Aufstand
Peter Trummer
Herder (2023)
205 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Wo bist du, Gott?
Dominika Rank lebt in Bogotá (Kolumbien), als russische Truppen Ende Februar 2022 ihre Heimat, die Ukraine, angreifen. Aus der Ferne bekommt sie mit, wie der Krieg in das Leben ihrer Mutter, ihrer Neffen und vieler andere Menschen, die sie kennt, eingreift. Sie selbst ist zu weit weg, hilflos, wütend, hat Angst um ihre Angehörigen und Freunde. „Ich wollte mich rächen. Für mein Volk, für vergewaltigte Kinder, für ihre verhungernden Mütter in Mariupol.“ Mit diesen Gefühlen konnte sie nicht umgehen. Sie „fraßen meine Seele, fraßen mein Herz.“ Rank, in griechisch-katholischer Tradition erzogen, sucht Rat in der Bibel. Im Römerbrief stößt sie auf die Aussage „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“ (Röm 12,19) Dieser Satz wirkt befreiend. Sie muss ihre Gefühle nicht unterdrücken, nicht um Liebe oder Verzeihung ringen, wo sie gerade nicht angebracht sind, sondern kann vor Gott auch zu ihren negativen Gedanken stehen. „Mit der tiefen inneren Überzeugung, dass er die Gerechtigkeit wiederherstellen wird“, schreibt Rank, vertraue sie Gott ihre Rachegelüste an. Um ihre Gefühle verarbeiten zu können, beginnt sie zu schreiben. Zehn Mediationen sind auf diese Weise entstanden, u.a. über Rache, Geduld, den Wunsch zu siegen, über Hoffnung und über die Frage, die zum Titel des Buches wurde: „Wo bist du, Gott?“ Eine Frage, die leidenden und zweifelnden Menschen (sofern sie Glaubende sind) vermutlich sehr vertraut ist. Ihre Antwort bietet Rank ihren Lesenden erst an, nachdem sie eine Weile mit Gott und dem Krieg gerungen hat – und erzählt dazu eine Geschichte aus dem Krieg, die sie von einem Freund gehört hat. Eine Geschichte von der Front, aus tiefer Verzweiflung und Erschöpfung, die ihm und seinen Kameraden wie eine Gottesbegegnung vorkam. Sein Fazit: „Gott ist dort, wo man ihn in diesem Moment am meisten braucht, er kommt zu uns in Form von Händen einer alten Frau, einer warmen Decke in kalten Nächten, einem Anruf, einem Lächeln.“ Dass diese Geschichte eine erlebte Geschichte ist und am Ende dieses kleinen Buches steht, am Ende eines Ringens um Beziehung und Vertrauen, das macht sie glaubwürdig. Ohne dieses Ringen in Krisensituationen gibt es keinen Glauben. Erst die Krise und das Ringen mit ihr macht diese Antwort möglich. Es gibt keine Abkürzung, alle Versuche, die Zweifel auszublenden, führen zu Glaubwürdigkeitsverlust. Dominika Ranks Buch zeigt die Innenseite des Krieges, das, was sich anhand der Bilder in den Medien nur erahnen lässt. Doch reichen ihre Gedanken weit darüber hinaus. Ihre kurzen Mediationen sind für jegliche Krisensituation hilfreich, weil sie keine fertigen Antworten und schon gar keine Ratschläge bieten, sondern die Lesenden dazu bringen, Gott mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen zu konfrontieren. (Religiöses Buch des Monats Mai)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Wo bist du, Gott?
Dominika Rank
echter (2023)
77 Seiten : Illustrationen (farbig)
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Du bist wundervoll
Papst Franziskus ist sicherlich kein "Papst der Bücher", wie man es vom kürzlich verstorbenen Benedikt XVI. mit Recht gesagt hat. Das sollte aber nun niemanden zum Fehlschluss verleiten, Papst Franziskus habe der Welt nichts von bleibendem Wert mitzuteilen. Wer einmal Predigten oder Ansprachen von Papst Franziskus gehört hat, käme auch nie auf diese Idee, denn dessen Gedanken sind ebenso originell wie tiefgründig, so dass man sich oft wünscht, das alles noch einmal in Ruhe nachlesen zu können. Und dankenswerterweise gibt es auch immer wieder Zusammenstellungen seiner mündlich vorgetragenen Reden in Buchform durch das vatikaneigene Verlagshaus. Ein schönes Exemplar dieser Kategorie ist jetzt unter dem Titel "Du bist wundervoll" erschienen. Den 14 Kapiteln ist als Einleitung eine Weihnachtspredigt vorangestellt, welcher der Titel des Buches entnommen ist. In der Auslegung des Lukas-Evangeliums von Jesu Geburt in Betlehem sagt Papst Franziskus: "Heute überrascht uns Gott und sagt zu jedem von uns: ‚Du bist ein Wunder.' […] Gott sagt zu dir: ‚Nur Mut, ich bin bei dir.' Er sagt es dir nicht mit Worten, sondern indem er Kind wird wie du und für dich..." Papst Franziskus wird nicht müde, immer wieder dieses grundlegende Geheimnis des christlichen Glaubens zu verkünden und es immer wieder neu zu formulieren: Wir sind geliebte Kinder Gottes. Gott wird Mensch, um uns diese Liebe spüren zu lassen. Aber das göttliche Kind braucht dann auch unsere Liebe und Zuwendung, und wir können sie ihm zuteilwerden lassen in unserem Nächsten, um den wir uns kümmern. Es folgen "15 Regeln für ein gutes Leben", die einer Katechese zum Thema "Zur Hoffnung erziehen" entnommen sind, in welcher sich Papst Franziskus vorgenommen hatte, "als Vater zu einem jungen Menschen zu sprechen - oder zu jedem beliebigen Menschen, der offen ist zu lernen". Diese sehr kompakten, jeweils nur aus wenigen Sätzen bestehende Regeln für ein "gutes Leben" werden dann in den weiteren Kapiteln entfaltet, wobei das "gute Leben" in einem doppelten Sinne zu verstehen ist: gut gegenüber anderen und gerade dadurch auch gut für mich selbst. Die thematische Zusammenstellung von einzelnen Anschnitten aus Predigten und Ansprachen (bei Generalaudienzen oder beim Angelus), ergänzt durch kurze korrespondierende Texte aus Enzykliken oder Apostolischen Schreiben, will keine theoretischen Erkenntnisse vermitteln. Vielmehr geht es Papst Franziskus darum, in immer neuen Perspektiven zu betrachten, wie der christliche Glaube wirklich gelebt werden kann - ein Glaube, der befreit und erfüllt, der Angst und Traurigkeit besiegen kann, der aber auch eine Antwort erwartet und herausfordert, der uns jedoch nie überfordert, weil Gottes Liebe und Barmherzigkeit grenzenlos sind. Aufgrund der ursprünglich meist eben gesprochenen, nicht geschriebenen Beiträge ist das Buch natürlich sehr gut zu lesen - kurze Sätze, manchmal nur aus zwei, drei Wörtern, direkt und ohne Umschweife, oft in persönlicher Anrede an die Hörenden bzw. Lesenden, mit deutlichen Worten und anschaulichen Beispielen, manchmal auch mit etwas drastischen oder paradoxen Formulierungen von Papst Franziskus, die aufhorchen lassen und nachdenklich machen wollen. - Man muss dieses Buch keineswegs von vorne bis hinten durchstudieren, durch die vielen kurzen Abschnitte kann es auch sehr gut als Lesebuch verwendet werden, und es eignet sich besonders gut für Jugendliche, die oft ja auch direkt angesprochen werden, ohne dass es aber Ältere ausschließen würde. Idealerweise aber kommen durch die Lektüre die verschiedenen Generationen miteinander ins Gespräch über den Glauben, wie es Papst Franziskus empfiehlt. (Religiöses Buch des Monats April)
Thomas Steinherr
rezensiert für den Borromäusverein.
Du bist wundervoll
Papst Franziskus ; aus dem Italienischen von Gabriele Stein
Herder (2023)
192 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Streu Glitzer drauf!
Von einer Freundin bekam Schwester Marie-Pasquale Reuver aus dem Franziskanerinnenkloster Sießen eine Postkarte mit der Aufschrift "Wenn dich dein Leben nervt - streu Glitzer drauf!". Mehr als nur ein flotter Spruch, findet die Theologin und Seelsorgerin nach einem ersten Schmunzeln. Tatsächlich kann man auch dunkle Zeiten im Leben durch Augenblicke der Schönheit erhellen, und oft werden einem die Glitzermomente sogar geschenkt, man muss sie nur wahrnehmen. Glitzer funkelt, weil er das Licht reflektiert. Das heißt also, dass beides zusammenkommen muss: Gottes Licht und meine Bereitschaft, Gott auch einen Reflexionsraum in meinem Leben zu geben. "Streu Glitzer drauf" kann man somit durchaus als prägnante Formulierung dafür verstehen, dass Gottes Licht auch im Alltag sichtbar werden kann - wenn wir es nur zulassen. "Den ganz normalen Alltag möchte Gott mit uns teilen. Mit uns am Tisch sitzen." In dieser Überzeugung hat Schwester Marie-Pasquale in ihrem sympathischen Buch fast sechzig "Geschichten von Gottesbegegnungen im Alltag" aufgeschrieben, die genau das auf eindrucksvolle Weise zeigen: In allen, wirklich allen Situationen des Lebens ist Gott bei uns und lässt sich von uns finden, wenn wir ihn nur suchen. Wir neigen dazu, immer nur auf die Schwierigkeiten zu schauen, die uns widerfahren, und verlieren dadurch leicht den Blick für all das Gute, das uns doch auch umgibt. Die Autorin empfiehlt als Gegenmittel, wir sollten uns immer wieder einmal überlegen, wofür wir alles dankbar sein dürfen, um wieder eine zutreffendere Sicht auf das Leben zu gewinnen. Die japanische Kunst des Kintsugi lehrt sie den richtigen Umgang mit Brüchen: Gott vergoldet auch meine Risse durch seine Barmherzigkeit, wenn ich mich in seine Hand gebe. Die Unterhaltung mit drei Kindern über die biblische Brotvermehrung lässt sie die Wunder Jesu mit neuen Augen sehen - und begreifen, weshalb auch wir werden sollen wie die Kinder. Die um die praktischen Erfordernisse des Alltags besorgte Marta, von der man im Evangelium liest, ihre nur zuhörende Schwester Maria habe das Bessere gewählt, wird mit der zupackenden Oma der Autorin verglichen und dabei auf liebenswerte Art "rehabilitiert". In einem bunten Strauß von erlebten Alltagssituationen, Begegnungen und Erfahrungen, aber auch bei der Lektüre von Romanen wie etwa "Harry Potter" oder den "Känguru-Chroniken" werden auf diese Weise plötzlich ganz viele Glaubensthemen sichtbar - und fast wie nebenbei überzeugend erklärt und in die normale Lebenswelt eingebunden. Da ist auch manch Überraschendes dabei, wenn etwa die Vorstellung vom Fegefeuer von Schwester Marie-Pasquale als eigentlich "frohe Botschaft" erklärt oder die Taufe als eine Art Superman-Gewand bezeichnet wird, das uns ungeahnte Kräfte verleiht. Gott wird verglichen mit einem guten Baumeister, einer aufmerksamen Kellnerin, einer gnädigen Polizistin und sogar mit der Mediathek auf dem iPod, um anschaulich ausdrücken zu können, was Gott für mein Leben bedeuten kann und will. Alles in allem werden in diesem sympathisch unprätentiösen Buch keine revolutionär neuen Erkenntnisse vermittelt, aber die Verortung der Glaubensfragen im Alltag gelingt der Autorin so lebensnah, anschaulich, humorvoll und überzeugend, dass wohl alle Lesenden solch eine authentische Glaubenserfahrung als große Ermutigung und Ansporn empfinden werden, Gottes Nähe und Gegenwart auch im eigenen Alltag zu suchen. Und etwas Besseres kann man über spirituelle Literatur kaum sagen. (Religiöses Buch des Monats März)
Thomas Steinherr
rezensiert für den Borromäusverein.
Streu Glitzer drauf!
Marie-Pasquale Reuver
Patmos Verlag (2023)
160 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Erwarte keine frommen Sprüche
Er könne nicht mehr beten, schrieb Jörg Meyrer, Pfarrer von Bad Neuenahr, einige Tage nach der Flutkatastrophe von 2021. „Die vertrauten Worte passen nicht mehr.“ Könnte es sein, dass das auch für andere Situationen gilt? Dass die vertrauten Worte ihre Kraft verlieren und auch das Beten in eigenen Worten schal wird? Für diesen Fall erweisen sich die Psalmen von Stephan Wahl als großer Schatz. Den Anfang machte der „Ahr-Psalm“, den er nach der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 schrieb. Wahl, der in Jerusalem lebt, stammt von der Ahr-Mündung und kennt entsprechend viele Menschen, die von der Flut betroffen sind; ein Verwandter von ihm kam dabei ums Leben. Seine Betroffenheit brauchte ein Ventil, sagte er dem Kölner Domradio, das er dann in Form eines Psalms gefunden hat. Damit gab er Pfarrer Meyrer und vielen anderen Menschen Worte, mit denen sie sich an Gott wenden konnten. Daraus wurden mehr Psalmen, in denen Wahl mit unterschiedlichen Themen ringt. Im Buch sind sie thematisch geordnet: die Katastrophe an der Ahr, Klagepsalmen, Lob und Dank, Ermutigung, Psalmen zu bestimmten Zeiten. Darunter sind ein Psalm für Menschen, die nach der Flut in ihre Häuser zurückkehren, ein ratloser Psalm zum Ukraine-Krieg, ein „Ohne-Glauben-Psalm“, ein Dank-Psalm („Wenn ich etwas von dir will / bin ich sofort zur Stelle … / Es ist höchste Zeit, einmal nichts zu wollen, / dir einfach zu danken …“), ein Psalm für müde Menschen vor dem Zubettgehen, ein Mutmach-Psalm. Kennzeichnend für Wahls Texte sind die frischen Formulierungen, ohne fromme Floskeln, die vom Ringen mit Gott erzählen, um den eigenen Glauben, um das Leben mit all seinen schönen und abgründigen Seiten. Hier schreibt einer, der eben nicht vorgibt zu wissen, wer Gott ist, was er will und warum sie sich so verhält wie Wahl (und viele Menschen) es erfahren: „Noch mehr fehlen die Menschen, / die in den Fluten starben. / Warum, Ewiger, hast du sie nicht gerettet? / Warum? / Dein Schweigen quittiere ich / mit meinem eigenen Schweigen, / ich begreife dich wirklich nicht, / rätselhafter, ewiger Gott.“ Diese Spannung zwischen dem rätselhaften Gott und dem, dem sich der*die Betende vertrauensvoll zuwendet, tritt in fast jedem Psalm zutage. Wahl scheut sich auch nicht, mit Gott Klartext zu reden: „Nie werde ich verstehen / warum du dem allem nur zusiehst, / deine Hand nicht eingreift / und die Tyrannen zerschmettert. / Mach dich gefasst auf meine zornigen Fragen, / wenn wir uns sehen werden, später ...“ (Es ist Krieg). Die Worte, die Stephan Wahl für sein Ringen mit Gott und dem Leben findet, gehen unter die Haut. Sie haben das Zeug, die eigene Zunge (wieder) zu lösen und das eigene Beten zu bereichern. Sie zeigen einen Gott, der mit sich reden lässt, dem man Freude und Dankbarkeit genauso zumuten darf wie Wut und Trauer, ja selbst den eigenen Unglauben. (Religiöses Buch des Monats Februar)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Erwarte keine frommen Sprüche
Stephan Wahl
echter (2022)
110 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Präsent sein für Gott
Seit dem Konzil haben die katholischen Laien erfreulicherweise zunehmend das Bewusstsein gewonnen, dass sie ebenso wie die Kleriker dazu berufen sind, als Zeugen Christi in der Welt zu wirken. Voraussetzung für ein solches Wirken in der Welt ist natürlich eine wirkliche Vertrautheit mit Christus, denn was wären das für Zeugen, "die nicht Jenen aufgesucht hätten, für den sie Zeugnis ablegen sollen, ... die nicht auf Jenen hörten, dessen Botschaft sie übermitteln sollen"? Christinnen und Christen, die für die Welt da sein wollen, müssen darum ihrerseits unablässig für Gott da sein, und "für Gott präsent wird man im Wesentlichen durch das Gebet". "Deshalb gibt es in diesen Zeiten, in denen die Christen sich ihrer apostolischen Berufung und ihrer weltlichen Aufgaben deutlicher bewusst werden, nichts, was wichtiger wäre, als sie in das Gebet einzuführen und ihnen beten zu helfen." Der französische Priester Henri Caffarel (1903-1996), der sich sehr intensiv in der Seelsorge für Ehepaare engagierte, hat sich darum immer ganz besonders für die Gebetsschulung eingesetzt. Sein Buch mit 100 Briefen über das Gebet liegt nun zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung vor, bislang gab es nur eine um die Hälfte gekürzte deutsche Ausgabe. Es handelt sich dabei nicht um eine systematische Gebetsschule, vielmehr geht der Autor in den hundert Briefen jeweils ganz konkret auf die Situation der Adressaten oder auch deren Fragen ein. So wird das Thema im Grunde immer ganz, aber aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachtet, und nach und nach ergibt sich ein immer deutlicheres, plastischeres Bild. Man kann diese Briefe darum sehr gut auch einzeln lesen, ja, der Autor wünscht sich sogar ganz ausdrücklich, dass man nicht mehr als einen Brief pro Tag lese, um genügend Zeit dafür zu haben. Die Briefe wollen nicht Wissen oder Erkenntnis vermitteln, sondern einladen, "in das Vertrauensverhältnis mit Gott einzutreten". Man kann aufgrund dieser Eigenart des Buches also nur einige Grundgedanken schildern, die immer wiederkehren und von verschiedenen Seiten aus beleuchtet werden. Zunächst ist dem Autor ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass die erste Initiative beim Gebet immer bei Gott liegt: Wer zu beten beginnt, wird bereits erwartet. Wie beim Gleichnis vom verlorenen Sohn, kommt uns der Vater, wenn wir uns nur auf den Weg zu ihm machen, bereits voller Freude entgegen. Warum machen wir dann aber oft die Erfahrung im Gebet, dass Gott nicht da zu sein scheint? "Gott ist da, aber wir sind nicht da. Unser Dasein vollzieht sich an den Rändern unseres Selbst..." Menschen, die mit ihrem Gebetsleben unzufrieden sind, rät der Autor, sie sollten bedenken, dass es im Gebet ja nicht auf ihr Zutun alleine ankommt, so dass auch ein als unzureichend empfundenes Gebet durchaus eine Wirkung entfalten kann - so wie auch die Sonne ihre Kraft auf uns ausübt, wenn wir ein Sonnenbad nehmen, ohne dass wir etwas dazutun müssten als nur: uns der Sonne auszusetzen. Das Gebet ist darum nicht nur etwas für Heilige, sondern steht auch dem Sünder immer offen, sogar dem Sünder, der weiß, dass er nicht den Willen Gottes tut, und nicht die Kraft hat, das zu tun, was Gott von ihm erwartet - er kann und soll dann wenigstens Gott "bitten, dass sein Reich komme, und für die Anderen beten". Der Autor war zweifellos ein sehr kluger geistlicher Ratgeber, er belehrt nicht von oben herab, gibt lieber aus Erfahrung erwachsene Ratschläge, verdeutlicht an Beispielen, Erlebnissen, Geschichten oder Vergleichen, stellt Fragen, um das eigene Nachdenken anzuregen. So ist ein faszinierendes Lesebuch entstanden, das einen reichen Schatz beinhaltet, den man nicht oft genug betrachten kann und aus dem man immer wieder Neues zu Tage fördern wird.
Thomas Steinherr
rezensiert für den Borromäusverein.
Präsent sein für Gott
Henri Caffarel ; herausgegeben von Frank Höfer ; übersetzt von Hans Urs von Balthasar und [einem weiteren]
Verlag Herder (2022)
288 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats