„Mit mir ist es komisch. Ich kann so viel!“- Lotta
Warum Kinderbuch-Held:innen wie Lotta zeitlos sind und wir alle wieder einmal Astrid Lindgren lesen sollten
Ein Nachruf von Verena Kaster
„Mit mir ist es komisch. Ich kann so viel!“ sagt Lotta aus der Krachmacherstraße mit voller Überzeugung und zu Recht. Denn Lotta ist nicht nur ein fröhliches Kind, das Radfahren kann, nein, sie besorgt ihrer Familie auch einen Weihnachtsbaum, als scheinbar in ganz Schweden keiner mehr zu ergattern ist. Somit rettet sie das Weihnachtsfest, ihre Geschwister Jonas und Mia-Maria sind nicht mehr traurig und die Familie tanzt letztlich doch noch traditionell um den Weihnachtsbaum.
Lotta ist nur eine von vielen autarken, selbstbewussten Kinderbuch-Held:innen, die Astrid Lindgren zum Leben erweckt hat. Wer war die Frau aus Schweden, die zeitlose Kinderliteratur geschrieben und ihre Figuren sowohl mit viel Liebe als auch mit Mut und Eigensinn ausgestattet hat?
Astrid Lindgren, eine Cineastin, die den Jazz liebte, leidenschaftlich tanzte und schon als junge Frau gerne eine Kurzhaarfrisur trug, wurde 94 Jahre alt. Am 28. Januar 2022 jährt sich ihr Todestag bereits zum 20. Mal. Doch vergessen ist sie nicht. Ihre Bücher wurden weltweit in mehr als 70 Sprachen übersetzt und sind ein Ruf nach Freiheit sowie Geborgenheit. Werte, für die sich Lindgren auch außerhalb ihrer Literatur stets eingesetzt hat.
„Behandelt eure Kinder mit ungefähr der gleichen Rücksicht, die ihr wohl oder übel euren erwachsenen Mitmenschen zeigt. Schenkt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann kommen die Manieren von allein“, ist Lindgrens Überzeugung gewesen und diese lebte sie auch in ihren Büchern aus.
1945: Pippi Langstrumpf betritt die Weltbühne
1945 ist das Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg endet. Konträrer dazu könnte es kaum sein, dass ein junges starkes Mädchen namens Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza Efraimstochter Langstrumpf, kurzgenannt Pippi, die Weltbühne betritt. Pippi ist alles, was man in den 1940er Jahren nicht erwartet hat und genau das macht ihren Charme aus.
Im Gegensatz zur jungen Astrid Lindgren, deren Eltern sie schon früh Tugenden wie Zuverlässigkeit, Fleiß und Disziplin auf dem elterlichen Bauernhof lehrten, ist Pippi auf sich alleingestellt, denn ihre Mutter ist bereits im Himmel und der Vater auf hoher See. Doch Pippi ist stark und selbstbewusst und so gelingt es ihr gemeinsam mit ihrem Pferd Kleiner Onkel und Herrn Nilsson, dem Äffchen, gut in der Villa Kunterbunt zu leben. Lediglich die Erwachsenen können sich nicht mit der autarken Pippi anfreunden und wollen sie stets dazu bewegen, ihr Leben in geordneten Verhältnissen zu leben. Dabei findet sich Pippi prima allein zurecht und hat auf jede Frage stets eine Antwort parat: „Warum um aller Welt hast du ein Pferd auf der Veranda?“ frage Tommy. […] „Tja“, sagte Pippi nachdenklich, „in der Küche würde es nur im Weg stehen. Und im Salon gefällt es ihm nicht.“
Pippi Langstrumpf ist ein Welterfolg, bis heute erkennen Kinder das Mädchen mit den abstehenden, rothaarigen Zöpfen sofort. Und auch 1945 hat der Verlag Rabén & Sjögren aus Stockholm das Potenzial dieses Werkes gesehen und gewürdigt. So gewann das Buch Pippi Langstrumpf den ersten Preis in der Kategorie "Kinderbücher für das Alter 6-10 Jahre". Dass dies nur der erste Preis von vielen für Astrid Lindgren sein würde, die 1981 mit Ronja Räubertochter ihren letzten großen Kinderroman verfasst, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.
Bewegung und Spiel
Dass Lindgrens Bücher Groß und Klein begeistern, liegt unter anderem an der Lebendigkeit ihrer Geschichten. Astrid Lindgren ist große Befürworterin des Spielens und Erlebens, was sie keinesfalls nur den Kindern vorbehalten möchte. Spielen und bewegen soll sich jeder, auch und gerade, wenn man bereits erwachsen ist. Die Schriftstellerin geht hier beispielhaft voran.
„Astrid war so unglaublich gelenkig. Ich sehe sie noch vor mir in der Turnhalle. Wie ein Affe turnte sie oben unter der Decke herum…“, wird sich später ihre Freundin Anne-Marie Ingeström erinnern. Auch Lindgrens Großnichte Karin Alvtegen hat den Spieltrieb der Großtante noch genau vor Augen: „Apropos gespielt und gespielt. Das war das Lustige mit Astrid. Wir waren nie ganz sicher, ob sie sich nicht in eine richtige Hexe verwandelt hatte, so gut konnte sie spielen. So sind Erwachsene sonst nicht.“
Im Spiel ist die Wildheit erlaubt, die unterschiedlichsten Gefühle dürfen ausgelebt werden, es wird gekämpft, sich gewunden, gesprungen und balanciert. Alles, was in der Erwachsenenwelt mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert wird, darf im Spiel sein. Der Bewegungsdrang Lindgrens steht auch immer für ihr gelebtes Freiheitsgefühl und zeigt sich durch Geschwindigkeit, Sprünge und gekletterte Höhenmeter.
Ihre Figuren stehen der Schriftstellerin in nichts nach. Madita balanciert durch eine Mutprobe herausgefordert auf dem Schuldach und spielt mit ihrer kleinen Schwester Lisabeth am Flussufer die biblische Geschichte Moses im Schilf nach.
In Bullerbü wird Brennball gespielt, aber auch Blinde Kuh und man gräbt sich eigene Höhlen im Heuboden. Die Freundinnen Lisa und Inga haben zudem geheime So-tun-als-ob-Spiele, bei denen sie sich unter anderem in zwei Frauen verwandeln, die sich gegenseitig besuchen. Es wird sich verrückt verkleidet und Puppen werden umsorgt. In Bullerbü wird es den Kindern niemals langweilig. So sieht es auch die Erzählerin Lisa. Ihr Fazit: Wir spielten lange und hatten viel Spaß.
Auf Saltkrokan bekommt Pelle von seinem Vater sogar einen ganzen Spaß-Tag geschenkt. Schnell sind zwei Teams gebildet (und klar, auch die Erwachsenen sind beteiligt), ein altes Boot wird zum Piratenschiff und schon geht die Schlacht um den sogenannten Mühsack-Diamanten los.
Astrid Lindgren ist sich dem exzessiven Spielen, in ihren Büchern und ihrem eigenen Leben, durchaus bewusst: „Wir spielten und spielten und es ist ein Wunder, dass wir uns nicht totgespielt haben.“
Das Spiel wird lebenslang ein wichtiges Element für sie bleiben.
Schauplätze und Jahreszeiten, Politik und Engagement
Astrid Lindgrens Geschichten erzählen nicht nur von Freundschaften und Abenteuern, auch die Jahreszeiten, die Natur, die Bauernhöfe und Kleinstädte Schwedens haben ihren festen Platz in Lindgrens Literatur. Die Schriftstellerin nimmt uns hierbei mit zu den Schauplätzen, die sie selbst im Leben geprägt haben. Die junge Astrid wächst auf einem landwirtschaftlichen Hof auf, geht jedoch nach der Schulzeit in die Großstadt Stockholm, um dort ihre journalistische Ausbildung zu beginnen. Großstadt bedeutet für sie Anonymität und Freiheit, aber auch Eigenverantwortung und Selbstständigkeit. Stockholm wird Lindgrens lebenslanger Wohnort bleiben. Die junge Frau baut sich dank ihrer Schulausbildung nun in der Stadt eine Existenz auf. Durch Freundinnen und familiäre Unterstützung schafft sie es ebenso, ihre nicht eheliche Schwangerschaft zu meistern. Der dreijährige Aufenthalt ihres Sohnes in einer Pflegestelle, bevor sie ihn wieder in ihre Obhut nimmt, wird sie allerdings ihr Leben lang belasten.
Schon früh entwickelt Astrid Lindgren ein Bewusstsein für unterschiedliche Klassen in der Gesellschaft. So zeigt ihr der eigene Schulbesuch, welche sozialen Unterschiede es zwischen den Kleinstadtkindern und den Landkindern gibt, letztere, die bei der Arbeit auf den Höfen eingebunden werden. Lindgren ist eine gute Beobachterin, ihr Interesse an Politik und gesellschaftlichem Engagement ist hoch. Als sie für den schwedischen Geheimdienst von 1940-1945 in der Stelle für Briefzensur eingesetzt ist, wird ihr die prekäre Situation in der europäischen Politik mehr als deutlich. Lindgren spricht sich gegen Nationalsozialismus und gegen sowjetischen Sozialismus aus, ihr Mitgefühl für Kinder und Frauen im Krieg ist groß, in ihrem Tagebuch schreibt sie dazu: „So friedlich kann man 1941 in Stockholm leben, aber ringsum auf der Welt sieht es zu traurig aus.“
Lindgren wird sich ihr Leben lang für Kinderrechte und eine gewaltfreie Erziehung stark machen, ebenso ist sie eine der Ersten, die die Massentierhaltung kritisiert.
Ihre politischen und gesellschaftlichen Beobachtungen lassen sie in ihren Büchern eine eigene Welt erschaffen, weit weg von Krieg und Zerstörung. Lindgrens Liebe zur Natur, das Feiern der einzelnen Feste und Jahreszeiten wird fester Bestandteil ihrer Literatur. Im Interview mit Felizitas von Schönborn verriet sie: „Ja, wir lebten ganz mit der Natur. Als ich klein war, spielte sich fast das ganze Leben draußen ab. Für mich ist die Natur das Wichtigste von allem. Ich brauche und liebe sie über alles. Wenn ich an meine Kindertage zurückdenke, dann fallen mir als erstes nicht die Menschen von damals ein, sondern die Wiesen und Wälder.“
So ist der Zauber der Weihnachtszeit und der Tanz um den Baum in vielen Werken von ihr zu finden, aber auch die Mittsommernacht, Erntefeste oder das Erblühen der Kirschbäume im Frühjahr sind Motive ihrer Bücher: Wir Kinder von Bullerbü haben es Weihnachten so wunderbar schön. Wir haben es natürlich auch sonst schön, im Sommer und im Winter, im Frühling und im Herbst.
Das Dilemma mit dem Großwerden
Die Kindheit genießen, spielen, singen und herumtoben, das alles ist für Astrid Lindgren paradiesisch. Doch auch die Charaktere ihrer Bücher wissen, dass dieses Paradies einmal verlassen werden muss. Erwachsensein, das klingt für viele, unter anderem Pippi, überhaupt nicht mehr nach Spaß: „Große Menschen haben niemals etwas Lustiges. Sie haben nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern.“
„Kommunalsteuern heißt es“, sagte Annika.
„Ja, der gleiche Unsinn ist es in jedem Fall“, sagte Pippi.
Auch Lisa aus Bullerbü macht sich zu diesem Thema Gedanken: Aber es wird nicht lange dauern, bis ich zu groß bin, um mit Puppen zu spielen. Oh, wie langweilig muss es sein, wenn man groß ist!
Astrid Lindgren ist es ein Anliegen, die Kindheit nicht zu vergessen und sich den Spieltrieb zu bewahren. Die ernsten Töne, die anklingen, sind nicht bedrohlich, regen aber dennoch zum Nachdenken an. Dies ist eine Stärke der Wortwahl Lindgrens. Es ist nicht der erhobene Zeigefinger, viel mehr ein So-könnte-es-auch-sein, welches sie ihren Leser:innen anbietet. Dies bekräftigt sie auch im Interview mit Felizitas von Schönborn: „Die Menschen sollten die Erinnerung an ihre Kindheit bis an ihr Lebensende mit sich tragen. Gut haben es eigentlich nur Kinder, deren Eltern sich um sie kümmern und ihnen Vertrauen mit auf den Lebensweg geben. Nur so kann die Welt besser werden. Wenn ich überhaupt etwas mit meinen Büchern erreichen will, dann ist es das, die Erwachsenen und die Kinder einander näherzubringen.“
Ungebrochene Begeisterung bis heute
Warum tauchen Michel und die Brüder Löwenherz in diesem Artikel nicht auf? Was ist mit der mutigen Ronja Räubertochter? Wo ist Karlsson vom Dach geblieben, werden Sie sich nun vielleicht fragen. Es wurde auch nicht erwähnt, dass Astrid Lindgren in Kalle Blomquist lebt gefährlich im Jahr 1953 mit einem Tabu gebrochen hat, nämlich dem Mord im Kinderbuch.
Das stimmt, es gibt noch so viel mehr zu dieser vielfältigen Frau zu sagen, die ihrer Zeit stets einen Sprung voraus war. Das Gute jedoch ist: ihre Literatur bleibt uns erhalten. Lindgrens Bücher, die Biografien, ihre Tagebücher und Interviews hinterlassen der Nachwelt Ideen einer mutigen Schriftstellerin, die das Wohl der Kinder immer an erster Stelle gesehen hat.
Auch im Jahr 2022 ist die Beliebtheit der Astrid-Lindgren-Bücher ungebrochen. Die Geschichten aus Schweden haben sich über die Jahrzehnte längst zu Kinderbuchklassikern entwickelt, wenn es auch zuletzt Diskussionen um einige kolonialistische Begriffe in ihren Büchern gab.
Woran liegt die ungebrochene Begeisterung? Auch wenn Madita, Lotta oder die Kinder von Saltkrokan keine Digitalität kennen oder auf weite Reisen gehen, so sind ihre Werte, die sie vertreten, auch heute noch genauso elementar wie früher: es geht um Freundschaften, um Selbstvertrauen, Autonomie, die Achtung vor der Natur und das ewige Spielen. Eine Identifikation mit Lindgrens Protagonisten ist so gut möglich, da sie alle in ihrem Ursprung zutiefst menschlich sind, ihre eigenen Fehler haben und auch mal Rückschläge erleben müssen. Doch das Bedeutsamste, nämlich das Gute an sich, ist in den Geschichten geblieben und wird somit von jeder nachwachsenden Generation erneut für sich entdeckt und geliebt.
Verena Kaster ist Online-Redakteurin und Projektmitarbeiterin für "Wir sind LeseHelden" im Borromäusverein e.V.
Januar 2022
Titelbild groß (c) The Astrid Lindgren Company
Literaturhinweise:
Astrid Lindgren: Die Kinder aus Bullerbü, Oetinger, Hamburg 2007
Astrid Lindgren: Lotta kann fast alles, Hamburg 2021
Astrid Lindgren: Madita, Hamburg 1992
Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf, Hamburg 2020
Astrid Lindgren: Pippi in Taka-Tuka-Land, Hamburg 2008
Astrid Lindgren: Drehbuch Ferien auf Saltkrokan – Die Seeräuber, Uraufführung 1966 im Kino
Karin Alvtegen in: Forsell u.a.: Astrid Lindgren. Bilder ihres Lebens, Hamburg 2007
Pau Berf/Astrid Surmatz: Astrid Lindgren. Zum Donnerdrummel! Ein Werkporträt, Hamburg 2002
Birgit Dankert: Astrid Lindgren. Eine lebenslange Kindheit, Darmstadt 2013
Felicitas von Schönborn: Astrid Lindgren. Das Paradies der Kinder, Berlin 2002
Margareta Strömstedt: Astrid Lindgren. Ein Lebensbild, Hamburg 2012