Romanadaption um einen alten Mann, der zu Fuß quer durch England wandert, um eine im Sterben liegende frühere Arbeitskollegin zu besuchen. Nach dem gleichnamigen Roman von Rachel Joyce (2011).
Eine Filmkritik von Alexandra Wach / filmdienst
Der traurig-skurrile Besteller von Rachel Joyce aus dem Jahr 2011 ist die Vorlage für die von ihr selbst adaptierte Verfilmung, in der ein unauffälliger Rentner urplötzlich aus seinem Alltagstrott ausbricht. Harold Fry (Jim Broadbent) erhält im verschlafenen Süden von Devon die Nachricht, dass seine frühere Kollegin Queenie Hennessy (Linda Bassett), die er seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat, im Sterben liegt. Er schreibt ihr einen steifen Brief, den er nach einer erhellenden Begegnung an einer Tankstelle nicht verschickt. Stattdessen spaziert er an mehreren Briefkästen vorbei und beschließt, das Schriftstück persönlich zuzustellen. Dann macht er sich zu Fuß auf den Weg. Selbst seine Frau Maureen (Penelope Wilton) ahnt nichts von seinem Vorhaben, rund 1000 Kilometer von Südengland bis an die schottische Grenze zu Queenies Hospiz zu wandern. Eine Reise, die ihn jeden Tag vor neue Herausforderungen stellt.
Ohne Handy & EC-Karte
Harold hat kein Handy dabei, keine Ersatzkleidung, kein Geld. Seine Schlüssel und seine EC-Karten sendet er nach einigen Tagen an Maureen zurück, sodass er nicht einmal in Bed&Breakfast-Unterkünften übernachten kann. Er isst wilde Brombeeren und sucht Hilfestellen für Obdachlose auf. Wenn er unter freiem Himmel schläft, strahlt sein Gesicht wie das eines Kindes, das sich in ein unbekanntes Spiel stürzt. Je länger er unterwegs ist, desto mehr glaubt er, dass er das Leben seiner krebskranken Freundin retten kann; er müsse nur durchhalten und sie auf ihn warten.
Wie im Märchen trifft er auf Menschen, die ihn in Rückblenden zum Grübeln über sein Leben bringen, auf Ärzte, Bauern und Vagabunden, die dem Erschöpften helfen und auch von ihren eigenen Ängsten und Sorgen erzählen. Dazu gesellen sich Anhänger, die ihm unterwegs zujubeln, während seine Frau zu Hause vor Kummer, Wut und Frustration zusammenzubrechen droht. Für sie ist Harolds wortloser Aufbruch eine Kränkung, die aufbrechende Wunden aus der Vergangenheit vermuten lässt.
Der grandiose Jim Broadbent spielt den gutmütigen Vorstadtrentner, der zum wandernden Weisen geworden ist, mit großem komödiantischem Können. Zunächst erscheint seine Figur als ein typisch britischer Exzentriker, gesegnet mit Weltfremdheit, sonderbarer Mimik und dem Mut zur trotzigen Selbstüberschätzung; ein unterforderter Senior, der endlich etwas von Bedeutung auf die Beine stellen möchte. Aber als er aber geplagt von Blasen zu humpeln beginnt, und Regisseurin Hettie MacDonald zunehmend ins tragische Fach wechselt, fragt man sich, was die wirkliche Motivation für diesen dornigen Weg zu einer befreienden Selbsterfahrung ist. Sind es Schuldgefühle? Ein familiäres Drama? Tiefe Trauer, die nach einem Ventil sucht?
Mit Sinn für introspektive Umwege
Macdonald nähert sich den Gründen für die wahre Gefühlslage ihres Helden langsam und mit Sinn für introspektive Umwege oder unscheinbar eingestreute Hinweise. Queenie entpuppt sich als ein überaus wichtiger Mensch in Harolds Leben, in deren Schuld er für einen Fehler steht, der beide ihre berufliche Existenz gekostet hatte. Und dann lastet auch der Selbstmord seines drogensüchtigen Sohns auf seiner Seele und die damit zusammenhänge Distanz zu seiner Frau, mit der er das Drama nicht zu verhindern wusste.
Alle diese allmählich enthüllten Bausteine tragen zu einer im Finale etwas ins Sentimentale abgleitenden Erzählung von Trauma, Erlösung und Versöhnung bei, inmitten von Landschaften, deren abwechslungsreiche Schönheit von der elegisch gleitenden Kamera prismatisch eingefangen wird. Am Ende seiner Pilgerreise findet Harold wieder Sinn im Leben, und der Film geizt nicht mit emotional in Szene gesetzten Botschaften und einer Feier des Guten, das buchstäblich Berge zu versetzen vermag.
Der Übergang von der stoischen Lebenslob-Poesie zur metaphysischen Besinnung gerät mitunter zwar etwas forciert, aber dank des entwaffnend intensiv aufspielenden Hauptdarstellers und der durchgehend sorgfältig besetzen Nebenfiguren verzeiht man den publikumswirksamen Verzicht auf die eine oder andere irritierende Grauzone im Dienst des Menschlichen.