Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss

Antje Rávik Strubel, die 2021 für ihren feministischen Roman „Blaue Frau“ den Deutschen Buchpreis bekommen hat, gilt als Autorin, die quer zu den Moden und Maßgaben des Literaturbetriebs schreibt: unbequem, diskurs- und streitfreudig, gegenwartswach. Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss Ihre Sammlung von Essays und Reden aus fast 20 Jahren bekundet das aufs Eindrücklichste. Ein wichtiges Thema der Essays ist eine gendergerechte Sprache. Die Logik des Gender-Sternchens besteht ihr zufolge nicht im Größer-, sondern im Kleinermachen des Geschlechts, in der Inklusion nicht-konformer Geschlechter, die zuvor schattenhaft waren. Solche „Gendergewänder“ passen nicht auf unsere heteronormativen Gebrauchsgewohnheiten. Strubel liebt das ästhetische Spiel in Zwischenräumen, das Funkeln von Widersprüchen, den Einfall in sprachliche Herrschaftsräume. Auch das nach kurzen Vokalen aus der Sprache getilgte „ß“ verteidigt sie vehement: ein „s“, das seinen Zwilling Huckepack nimmt, schreibt sie, sei im „Kuß“ doch viel poetischer als im „Kuss“. Bei solchen Überlegungen sieht sich Strubel als Erbin von Virginia Woolf. Tatsächlich hat ihr Schreiben viel von deren wissensreichem Witz, vom freien Denkversuch ohne lästige Erfolgserwartung. Andere Essays begründen fluides Geschlechtsdenken in Kleists Penthesilea, sprechen von der Naturwüchsigkeit der Kurzgeschichte oder betrachten die Poesie der Elchwanderung. Auf dem Innenblatt des Rückumschlags sind 13 Gebote aufgelistet, die zumindest teilweise erklären, wozu Strubel so schreibt, wie sie offenbar denkt: die Zweifel zu benutzen, um Sätze zu bilden; umzukehren und eigene Regeln zu entwerfen; die Wirklichkeit aus der Schräglage zu betrachten: darum geht es ihr. Pointierte und konzentrierte Essays gegen Denkverengung und für transversales Bewusstsein. Allen Beständen empfohlen.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss

Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss

Antje Rávik Strubel
S. Fischer (2022)

186 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 611809
ISBN 978-3-10-397170-5
9783103971705
ca. 24,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Ha
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