Walpurgistag

Es ist sicher alles andere als leicht, einen Vater jahrelang in einer Tiefkühltruhe zu erhalten, ohne im Gefängnis zu landen und ohne den Kontakt zum Eingefrorenen zu verlieren. Das gelingt aber Annja Kobe, die dafür ihre Identität aufgeben musste, auf vieles verzichtet und nun auch noch mit der schweren Truhe umziehen muss. Aber nicht nur Annja ist eine leicht schräge Gestalt, denn ihr hilft der obdachlose Alex, der sich gewöhnlich am Alexanderplatz aufhält, wo er dem unangenehmen Polizistenpaar Gottfried und Bartuschewski aus dem Weg zu gehen versucht, Poesie rezitiert und philosophiert. Da sind auch drei jugendliche Mädchen mit Migrationshintergrund, denen die Schule nicht zusagt, aber das Nachtleben in Berlin umso mehr. Weiter erscheint eine Schauspielerin, die sich im Rahmen eines Kunstprojekts bei einer Familie eine Nacht einmietet, ohne dass diese die wahren Zusammenhänge der Performance versteht, oder ein völlig unterschiedliches Paar, das sich auf ein Blind Date einlässt, zu dem es aber nicht kommen soll. Und so erlebt der Leser ein sehr schrilles Hauptstadtporträt, beinahe Minute um Minute, einen ganzen Tag lang. Es geht um einen nicht ganz gewöhnlichen Alltag mit Schule und Arbeit, Unfällen, Verbrechen, Sex, Liebe und Untreue, Existenznöten und Ängsten wie sie eben in so einer großen Stadt wie Berlin vorkommen. Mit bissigem Humor und gewagtem Einfühlungsvermögen begleitet die Autorin ihre alltäglichen, aber individuell sehr verschiedenen Figuren bis hin zum Fest der Walpurgisnacht im Mauerpark und nimmt sie dabei sehr genau unter die Lupe, ohne sich in Details zu verlieren. Für alle, die gern hinter die Kulissen schauen und Sympathie für schiefe Gestalten in ihrer ganzen Menschlichkeit hegen, ein intensives Lesevergnügen.