Du graue Stadt am Meer

Mit Storms "Schimmelreiter" müssen sich auch heute noch Gymnasiasten im Deutschunterricht auseinandersetzen. Jochen Missfeldt hat nun eine neue umfassende Biografie des Autors vorgelegt. Er zeichnet das Bild Storms vor allem in seinen familiären Zusammenhängen, die für dessen Person und Werk ausschlaggebend waren. Dabei nutzt Missfeldt vor allem die weitläufige Familien- und Freundeskorrespondenz, die Storm auch als einen der großen Briefschreiber des 19. Jh. hervortreten lässt. Der Dichter aus Husum, der grauen Stadt am Meer, ist einerseits ein hochsensibler und einfühlsamer Gesprächspartner, insbesondere Frauen gegenüber, und gleichzeitig rücksichtslos auf sich selbst bezogen. Er rühmt sich seiner freisinnigen Erziehungsmethoden und übt gleichzeitig einen Leistungsdruck aus, dem seine Söhne nicht standhalten können. Die Mädchen müssen sich dagegen entweder auf ein Leben als Mutter und Haushälterin oder als Gesellschafterin vorbereiten. Missfeldts Biografie gerät so auch zu einer eindrucksvollen Studie über das bürgerliche Familienleben im 19. Jh., in denen Dienstpersonal genauso so selbstverständlich waren wie ständige Infektionskrankheiten, Fehlgeburten und Kindbettfieber. Mächtige Leidenschaften stehen neben einem überhöhten Liebesideal, Abgründe werden mit gehäkelten Biedermeierdeckchen verhüllt. In Storms Novellen ist beides vorhanden, seine Novellen sind voll von gescheiterten Existenzen, die sich in ein Nischendasein zurückziehen müssen oder untergehen, seine Familie benutzt er dabei als Material. Missfeldt legt solche unheimlichen Zusammenhänge offen. Wer seine Storm-Biografie gelesen hat, liest die Werke dieses Autors mit neuen Augen.