Republik der Taubheit
Ein Puppenspiel auf einem städtischen Marktplatz, viele Zuschauer, auf einmal marschieren Soldaten ein, ein Junge wird erschossen. Es ist Petya, er ist taub, und aus Protest weigern sich die Zeugen des Geschehens fortan, die Soldaten zu hören. Stille als Widerstandsaktion: der 1977 in der Ukraine geborene und 1993 in die USA ausgewanderte Schriftsteller Ilya Kaminsky entwickelt ein erschreckend aktuelles Epos über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sein Text ist über etliche Jahre entstanden, 2019 in den USA erschienen und jetzt von Anja Kampmann in ein gelenkiges Deutsch übersetzt. Inmitten von Verhaftungen, Zerstörungen, Vergewaltigungen und Bombardements erwehren sich die Bewohner des Terrors, indem sie selbstgemachte Puppen aus dem Fenster hängen. Die Puppenspielerinnen unterrichten Gebärdensprache vom Balkon des Theaters, Alfonso und Sonya, die besten unter ihnen und die Erzähler der Geschichte, erinnern sich ihrer jungen Liebe. Kaminsky, der selbst als Kind sein Gehör verlor und weiß, dass nur die, die hören, von der Stille zu sprechen gewohnt sind, macht sein Herkunftsland zur Bühne für eine Parabel in Zeiten des Krieges, eine dramatisch aufgebaute Geschichte, die von der Gewalt erzählt und von der Liebe, die ihr Paroli bietet. Die Illusion von einem friedlichen Land ist hier zerstoben, es bleiben aber die Überlebenskraft starker Geschichten auf der einen Seite und die Hilflosigkeit des Zusehens auf der anderen. Die Dichtung sei, so wurde der Dichter am 22. Mai in der ARD zitiert, eine „Rüstung mit Worten“. Empfehlenswert.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Republik der Taubheit
Ilya Kaminsky ; aus dem Englischen von Anja Kampmann
Hanser (2022)
99 Seiten : Illustrationen
fest geb.