Die dunkle Nacht der Seele
Der Titel dieses Buches ist derselbe, den der berühmte Kirchenlehrer, Mystiker und Heilige Johannes vom Kreuz (1542-1591) seinem wichtigsten Buch gab, in dem er die schrecklichen Leiden beschreibt, die zum Aufstieg der Seele auf den geistigen Berg Karmel und damit zur Erfahrung Gottes führen, soweit dies uns überhaupt möglich ist. Duerr, renommierter Professor für Ethnologie und Kulturwissenschaften, knüpft in seinem respektablen Werk nicht an dieses religiöse Werk an, obwohl er es zitiert, sondern beschreibt auch mit Blick auf andere Kulturen, aus säkularer Sicht verschiedene irrationale Erfahrungen, vor allem Nahtod-Erfahrungen und außerkörperliche Jenseitsreisen, zu denen es Erzählungen in vielen Kulturen gibt. Da ist die Rede von Licht und Dunkel, von Tunnel und Helligkeit, von der Begegnung mit Verstorbenen, von paradiesischen Welten, von ungewöhnlichen Visionen und Auditionen, die der Betroffene nicht mehr missen möchte, die ihm aber bei klarem Bewusstsein nicht zugänglich sind - außer in der Erinnerung. Immer hat man darüber nachgedacht, wie solche Erfahrungen möglich sind, z. B. ob sich die Seele eine Zeit lang vom Körper lösen kann, ob der Mensch träume oder ob es sich um gänzlich unrealistische und unglaubwürdige Phantasien handelt. Philosophische, theologische und psychologische Theorien wurden zu Hilfe gerufen, um das Rätsel solch seltsamer Erfahrungen zu verstehen. Selbst in der Esoterik spielen sie eine allerdings nicht ernst zu nehmende Rolle. Duerr lässt nun keinen Zweifel mehr an der Faktizität solcher Phänomene zu. Er sucht nach neuen Erklärungen, denen er eine größere Plausibilität zuschreibt als früheren Versuchen. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis, dass viele dieser Erscheinungen glaubwürdig sind. In seiner Sicht handelt es sich um ungewöhnliche, schwer erklärbare und in vielen Kulturen vorkommende Halluzinationen, in die auch hellseherische Elemente eingegangen sein können. Er versucht diese zu beschreiben und von "normalen" Halluzinationen abzugrenzen, die z. B. unter Drogeneinfluss oder bei Unfällen entstehen können. Wieweit sich Duerrs neue Auffassung durchsetzen kann, wird erst die kommende wissenschaftliche Diskussion zeigen. Auf jeden Fall ist es sein Verdienst, dem Phänomen der Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen neue Aufmerksamkeit geschenkt und hochinteressantes Material aus aller Welt dazu zusammengestellt und gesichert zu haben. Wer sich an diese stellenweise nicht ganz einfache Lektüre machen will, muss Zeit und Aufgeschlossenheit mitbringen. Es lohnt sich. Empfehlenswert in ausgebauten Beständen.
Werner Trutwin
rezensiert für den Borromäusverein.
Die dunkle Nacht der Seele
Hans Peter Duerr
Insel (2015)
687, [4] S. : zahlr. Ill. (z. T. farb.)
fest geb.