Zurück nach Berlin
"Meine Mutter hatte mir gesagt, ich würde in die Ferien fahren... In ein paar Wochen würde ich wieder nach Hause kommen... Und ich habe ihr geglaubt." Mit diesen Worten erinnert sich Hans Lichtenstein, der Vater von Jonathan Lichtenstein, Autor dieses beeindruckenden Buches, an den Abschied von seiner Mutter in Berlin, als er 1939 als 12-Jähriger in einen der letzten Kindertransporte nach England einsteigt. Als eines von über 10.000 Kindern entkam er so dem Nazi-Terror gegen die Juden, aber seine traumatischen Erlebnisse bleiben und belasten zutiefst sein zukünftiges Leben. Doch es gelingt ihm, sich als Arzt in Wales niederzulassen und eine Familie zu gründen. Über seine Kindheit in Berlin, seine Erfahrungen während der Zugfahrt mit dem Kindertransport in das aufgezwungene Exil und sein Ankommen als "echter" Engländer spricht Hans mit niemandem, auch nicht mit der eigenen Familie - diese Jahre liegen wie ein undurchdringbarer Schatten über dem Leben aller Familienmitglieder. Und dieses Gefangen-Sein in der unausgesprochenen Vergangenheit belastet zunehmend die Beziehung zwischen dem Vater und seinen Kindern, die seinem unberechenbaren Verhalten ratlos und verständnislos gegenüberstehen. Erst auf der Reise nach Berlin, die Jonathan mit seinem betagten Vater in umgekehrter Richtung, d.h. von der Gegenwart in die Vergangenheit, unternimmt, lösen sich allmählich die seelischen Verkrustungen und Anspannungen. Überzeugend, ehrlich, schockierend, schmerzhaft, aber auch humorvoll beschreibt der Autor die langsam wachsende Annäherung zwischen Vater und Sohn, die sich durch die Reise in die Vergangenheit zur außergewöhnlich tiefen, verständnisvollen und liebevollen Beziehung entwickelt. - Ein packendes und bewegendes Buch, wärmstens zu empfehlen!
Inge Hagen
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Zurück nach Berlin
Jonathan Lichtenstein ; aus dem Englischen von Thomas Brovot
Insel Verlag (2021)
380 Seiten : Illustrationen
fest geb.