Was bleibt, wenn alles verschwindet
Die Lehrerin Ruth muss feststellen, dass ihre Freundin und ehemalige Berufskollegin Susanne zunehmend Wörter nicht findet und Dinge vergisst. Soweit es ihr möglich ist, gibt Ruth Hilfestellung mit Gedächtnisstützen. Susanne spürt selbst ganz massiv
das Nachlassen ihrer geistigen Kräfte. Deshalb will sie Ruth ihren komplizierten Lebensweg erklären, genauer: die Abschnitte, die sie bislang wohlweislich ausgeklammert hat. Das schafft sie fast noch bis zum Ende. Für Ruth schmerzlich ist, wie wenig Susannes Sohn Paul die Situation ernst nimmt. Erst in letzter Minute sucht er einen Heimplatz für sie. Da Susanne dort noch mehr abbaut, holt sie Ruth zu sich. Was bald aber über ihre Kräfte geht. Zum Glück findet sich über einen Kunden ihres Mannes, dessen Vater ebenso erkrankt ist, einen Platz in einer Demenz-WG. - Die Autorin beschreibt wenige Monate einer Abwärtsspirale. Besonders die Ausflüchte Susannes, wenn ihr ein Wort fehlt oder der Zusammenhang reißt, stellt sie treffend dar. Und wie deren Halt in der Realität immer brüchiger wird, wie sie Ruth für ihre Freundin aus Kindertagen hält und immer öfter glaubt, sie ziehe sich den Tadel ihrer längst verstorbenen Mutter zu. Ruth lernt mit der Zeit, dass sie Susanne in ihrer Welt lassen muss, weil sie ansonsten noch mehr verwirrt reagiert. Beim Lesen kann man sich wegen dieser Intensität der Schilderungen nicht gegen die Frage erwehren, wie man selbst in einer der beiden Rollen agieren würde. Oder als Kind oder naher Angehöriger gefordert sein kann. Eine bedenkenswerte Lektüre, besonders für etwas Ältere.
Pauline Lindner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Was bleibt, wenn alles verschwindet
Hermien Stellmacher
Insel Verlag (2021)
Insel Taschenbuch ; 4852
364 Seiten
kt.