Blindfisch

Lon, 16 Jahre alt, ziemlich angetan von Damian, einem neuen gutaussehenden Mitschüler, selbst angehimmelt von Tina, einer Klassenkameradin, irgendwie verunsichert: "Meine Füße sind gewachsen, aber andere Dinge nicht, die sind hingegen geschrumpft. Blindfisch Mein Blickwinkel. Mein Gehör. Mein Mut." (S. 25) Normale(?) Pubertätskrise? Mitnichten. Lon leidet am sogenannten Usher-Syndrom, einem Gendefekt, der zu Erblindung und Schwerhörigkeit bzw. Gehörlosigkeit führen kann. Inwieweit sich die Krankheit entwickelt, kann niemand vorhersagen. In den sechs Monaten der Handlung kommt es jedoch zu einer massiven Verschlechterung. Das dramatische daran ist, dass Lon niemanden darauf hinweist und so ziemlich allein alle Ängste und Herausforderungen bewältigen muss. Inklusive Klassenfahrt nach Rügen … Das Besondere an Karen Susan Fessels Erzählung ist, dass sie neben den unvorstellbaren Problemen, die solch eine Erkrankung mit sich bringt, das Kunststück vollbringt, die geschlechtliche Identität Lons offen zu lassen. Und das grandiose daran ist, dass sie das nicht zum Thema macht. Seine/Ihre Zugehörigkeit zu einem Geschlecht wird nicht thematisiert und so überlässt es Fessel ganz den Leser/-innen, (k)ein Geschlecht mitzulesen. An keiner Stelle wird die Geschlechtsidentität der Hauptfigur erwähnt, hingegen schon bei möglichen Partner/-innen. Ebenso auch erotische Träume und Lustempfinden sehr zart beschrieben. Und so lassen sich wunderbar eigene stereotype Rollenzuschreibungen hinterfragen, ohne konstruiert zu wirken. Es bleibt die Geschichte eines jungen Menschen, der sich mit zunehmender Sehschwäche und akuten Hörproblemen mit Gleichgewichtsstörungen auseinandersetzen muss, gleichzeitig aber auch Beziehungsfragen stellt. Angefangen von Niederlagen beim Volleyballspiel, das bis vor kurzen noch Lons große Stärke war, bis hin zu Orientierungslosigkeit und lebensbedrohlichen Situationen an fremden Orten. Verwundern mag es dabei schon, dass die Brisanz der Lage von (fast) niemandem in der Umgebung erkannt wird, noch nicht einmal von Mutter oder Stiefvater, die um die Krankheit wissen. Trotzdem eine große Empfehlung, da hier mit angenehmer Nebensächlichkeit auch über Beziehungen jenseits der Heterosexualität nachgedacht werden kann und die Erfahrung von gegenwärtiger Liebe sich unschlagbar positiv auf jegliche Lebenssituationen zeigt.

Anna Winkler-Benders

Anna Winkler-Benders

rezensiert für den Borromäusverein.

Blindfisch

Blindfisch

Karen-Susan Fessel
Verlag Friedrich Oetinger (2022)

205 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 750615
ISBN 978-3-7512-0260-2
9783751202602
ca. 18,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: J
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