Der Großcousin
Abbe und Reza: ein kosmopolitischer Unternehmer mit Netzwerken in Südafrika, Lateinamerika und Asien und ein 30-jähriger Flüchtling aus dem Iran, der aus heiterem Himmel mitsamt Frau und Baby in Frankfurt auftaucht und sich Abbe als dessen Großcousin offenbart. Abbe ist zunächst ratlos. Er weiß nicht, wie er seinen durchgetakteten Alltag, die Besuche des Vaters im Seniorenheim und die seltenen Freizeiten mit seiner Frau, mit der neuen Situation vereinbaren soll. Denn er hat seine iranischen Wurzeln und seine persische Muttersprache längst verloren. In der Person Rezas wird er mit einem Iran konfrontiert, das nicht mehr das Land der Ayatollahs ist, aus dem sein Vater einst geflüchtet war. Aus Rezas Erzählungen lernt er, dass die Mullah-Diktatur womöglich schlimmer ist, weil sie ökonomisch keine Perspektiven lässt und die Liebe selbst im privatesten Bereich reglementiert: Händchenhalten in der Öffentlichkeit ist verboten. Das alles kommt aber nur zögerlich zur Sprache, da Reza über sich schweigt und sich überhaupt ziemlich schwer tut in Deutschland, ohne Pass und Führerschein, ohne Sprachkenntnisse und Job. – Djafari, der 1952 im Iran geboren wurde und als Fünfjähriger nach Deutschland kam, erzählt differenziert, spannend und hochaktuell, wie zwei sehr unterschiedliche Perser mit Herkunft und Identität im Gastland umgehen. Die Handlung spielt während der Flüchtlingskrise, als die Willkommenskultur vielerorts in Kritik umschlug. Zugleich ist das Buch ein Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit. Auf dem Boden dieser Grundwerte können die Widersprüche, die sich zwischen junger Asylfamilie und assimiliertem Unternehmer auftun, nicht aufgelöst, aber kernprägnant und szenengenau dargestellt werden. – Ein wichtiges, fesselndes Buch über die Probleme des Ankommens und die Geschichten des Herkommens.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Der Großcousin
Nassir Djafari
sujet verlag (2024)
249 Seiten
kt.