Schau mich an

Die namenlose Erzählerin ist dick, so dick, dass sie ihren Beruf aufgibt, um möglichst nicht mehr angeschaut zu werden, und da, wo sie doch Blicken ausgesetzt ist, legt sie sich Strategien wie z.B. beißende Selbstironie zurecht, mit denen sie ihrer Umwelt den Wind aus den Segeln nimmt. Anerkannt wird sie nur an der Wursttheke, wo man eine unersättliche Kundin erwartet oder im Fitnessstudio, wo sie das Selbstwertgefühl dicker Frauen, die aber bei weitem nicht an ihre Maße heranreichen, hebt. Sie lebt nicht allein, sondern mit BC, einem kleinwüchsigen Mann, der selbst das Ausgeliefertsein an schonungslose Begutachtung kennt, was ihn aber dazu antreibt, eine Enzyklopädie der Blicke zu verfassen. Gemeinsame Ausflüge werden zumeist vermieden oder enden in einem Desaster. Ihr Schutzraum besteht nur aus den eigenen vier Wänden. Parallel schickt Elif Shafak ihre Leserschaft auf eine Zeitreise in die Türkei des 19. Jh. und ins russische Sibirien des 17. Jh., wo man Keramet Mumit Keske Memis Efendi kennenlernt, der wachsgesichtig geboren, befremdlich von seiner Familie beäugt, beginnt, mit der schönsten Frau der Welt und der hässlichsten wie mit einer Art Zirkus zu reisen. Diese Erzählwelten erschließen sich zunächst nicht als aufeinander bezogen, lassen aber dadurch eigene Blickwinkel zu und eröffnen die Sicht aus individueller Perspektive. Damit sind die Motive des ungewöhnlichen, komplexen Romans genannt: Blicke, Perspektiven, Sichtweise. Die Lektüre ist eine Herausforderung, der man sich stellen mag, um die Gesellschaft als Urteiler der Oberflächen zu enttarnen, wobei ganz alltägliche Erzählpassagen über das Leben einer Esssüchtigen, an mancher Stelle fast humorvoll, über weite Strecken anstrengenden Lesens hinweghelfen.