Freiheitsschock
Der Autor konstatiert in seinem Buch fundiert für viele Menschen im Osten den titelgebenden Freiheitsschock: nach zwei Diktaturen wurden sie nach der Wiedervereinigung in eine Freiheit gestoßen, die sie als Masse weder gewollt hatten noch mit der sie etwas anfangen konnten. Egal, ob sie oder ihre Eltern von der SED-Diktatur profitiert haben oder einfach nur Freiheit mit materiellem Wohlstand verwechselten – in der neuen Bundesrepublik mit ihrer Freiheit, aber auch ihren vielen Schattenseiten haben sich diese Menschen ihren eigenen "Westen" erfunden und sich selbst als "Rebellen" dagegen definiert. Kowalczuk hat in die 240 Seiten seines Buches sehr viel gepackt. Außer seiner Hauptthese erzählt und belegt er noch zahlreiche andere Möglichkeiten, auf knappem Raum entwickelt er eine der besten Schilderungen des "Ostens". Von den 1980er Jahren bis heute zieht er die verschiedenen Entwicklungslinien während der Endphase der DDR, der friedlichen Revolution, der Wiedervereinigung bis heute. Manches, was er berichtet, kann ich auch aus den Erinnerungen meines Vaters, der kurz vor dem Mauerfall in den Westen geflohen war, bestätigen, insbesondere, dass nationalsozialistisches und rechtskonservatives Gedankengut schon in den 1950er Jahren auch als eine Art "Widerstand" gegen die Diktatur aufgefasst wurden. Wenn heute in Ostdeutschland rechts gedacht, rechts gehandelt, rechts gewählt wird, dann hat das Wurzeln, die bis 1945 nahtlos zurückreichen. – Man wird vielleicht nicht allem in dem Buch zustimmen können, so sehe ich selbst das Treiben der Treuhand nach 1990 kritischer als der Autor. Auch ist es eine Streitschrift, der Tonfall kann manchmal Menschen ohne "Berliner Schnauze" etwas zu hart vorkommen. Das ändert nichts daran, dass hier der momentan wichtigste Beitrag zur Ostdeutschlanddebatte vorliegt, von dem drei Wochen nach Erscheinen bereits die 5. Auflage gedruckt wird. – Allen Büchereien empfohlen.
Friedrich Röhrer-Ertl
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Freiheitsschock
Ilko-Sascha Kowalczuk
C.H.Beck (2024)
240 Seiten
fest geb.