Stay away from Gretchen
"Seine Mam hat vergessen, dass sie alles vergessen wollte!" Eigentlich hat Tom Monderath, ein bekannter und vielbeschäftigter Kölner Journalist, keine Zeit und Lust, sich noch mehr um seine 84-jährige Mutter zu kümmern. Aber als die Diagnose Demenz nicht mehr zu leugnen ist, sieht er sich in der Verantwortung. Die Demenz fördert Lebenserinnerungen aus früheren Zeiten zu Tage: ihre Kindheit im russischen Preußisch Eylau, ihre Flucht nach Westen und der Neubeginn als Jugendliche in Heidelberg. Viele Dinge wurden in Toms Kindheit nicht ausgesprochen, es wurde geschwiegen zu den Verletzungen in der Kindheit und Jugend der Mutter, die im Erwachsenenalter immer wieder mit Depressionen zu kämpfen hatte. Durch die Erfahrung mit der Demenz seiner Mutter und das Lesen alter Briefe bekommt Tom ein ganz neues Bild von ihr. Dabei stößt er auf ein wohlgehütetes Geheimnis: Er hat eine Schwester, die seine Mutter mit einem schwarzen GI nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen hat und die zur Zwangsadoption in die USA freigegeben wurde. Hinterfragt durch die Recherche in der Vergangenheit seiner Mutter, muss der Mittvierziger auch in seinem eigenen Leben einiges neu überdenken und ordnen. - Außer den Themen Demenz, Flucht und Vertreibung, Neuanfang in der neuen BRD steht vor allem die Geschichte um die "Brown Babies" im Mittelpunkt der Erzählung. Ein spannendes Zeitdokument über die Lebensperspektiven der Mischlingskinder der 1940er Jahre. Unterhaltsam, lebensklug und informativ - wobei die Figur des Sohnes etwas mehr Schattierung verdient hätte. Sehr empfehlenswert.
Karin Steinfeld-Bartelt
rezensiert für den Borromäusverein.
Stay away from Gretchen
Susanne Abel
dtv (2021)
495 Seiten
fest geb.