Deutsche und Juden
1966 – ein Jahr zuvor hatten die Bundesrepublik Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen aufgenommen – lud der Präsident des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann (1895-1982) zu einer Diskussionsrunde unter dem Titel "Deutsche und Juden – ein ungelöstes Problem" ein, um durch gegenseitigen Austausch eine Basis für zukünftige Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen zu schaffen. Als Redner waren zwei jüdische Historiker, Gershom Scholem (1897-1982) und Salo W. Baron (1895- 1989), drei Deutsche, der Historiker Golo Mann (1909- 1994), der Politiker Eugen Gerstenmaier (1906- 1986) und der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) geladen, die alle die NS-Zeit bewusst erlebt und erlitten hatten. Goldmann betont in seinen einführenden Äußerungen, dass es in den nachfolgenden Beiträgen und Diskussionen nicht um Vergeben und Vergessen gehe, sondern um den Versuch, Möglichkeiten des Zusammenlebens, der Koexistenz zwischen Juden und Deutschen zu erörtern und Wege der Verständigung zu finden – was zu oft widersprüchlichen Aussagen und kontroversen Debatten führte. So verneint Scholem ein funktionierendes Zusammenleben, missbilligt das assimilierte "Deutschjudentum" und bezeichnet es als "Aufbruch der Juden von sich selbst hinweg". Dem widerspricht Mann, der "die große Mehrzahl der deutschen Juden immer als Deutsche angesehen habe" und begründet dies mit persönlichen Erfahrungen, an die er einen Überblick über das ambivalente Verhalten der Deutschen im Nationalsozialismus anschließt. Auch die weiteren Beiträge greifen unterschiedliche Aspekte auf, die von nicht zu vergebender Schuld der Deutschen für die Shoah, aber auch von Zukunftshoffnung getragen sind. – Obwohl die in diesem Buch dokumentierten Reden 1966 im Rahmen des in Brüssel stattfindenden Jüdischen Weltkongresses gehalten wurden, ist ihre Thematik aktuell geblieben und hat durch die gegenwärtigen Entwicklungen eine besorgniserregende Brisanz erfahren. Aufschlussreiche und wichtige Lektüre!
Inge Hagen
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Deutsche und Juden
neu herausgegeben von Amir Eshel und [einem weiteren]
Suhrkamp Verlag, Jüdischer Verlag (2024)
138 Seiten
fest geb.