Bibliothek Sarajevo

Die bosnisch-herzegowinische Hauptstadt Sarajevo ist ein Ort mit einem "Übermaß von Geschichte", ein tragischer Rahmen des kurzen 20. Jh., das 1914 mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger begann und Anfang der 1990er Jahre mit der dreieinhalbjährigen blutigen Belagerung der Stadt endete. Es sind die Schriftsteller, die diese Kriege auch im Frieden in sich tragen: Boten der Erinnerung an eine Stadt, in der Menschen verschiedener Ethnien, Religionen und Kulturen zusammenleben. Die rücksichtslose Zerstörung der neomaurischen National- und Universitätsbibliothek Sarajevos, der Vijecnica, im August 1992 ist Anlass für eine sehr lesens- und studierenswerte im Auftrag des Goethe-Instituts herausgegebene Anthologie mit Geschichten, Gedichten und Journalberichten. Den Herausgebern ist es gelungen, ein vielstimmiges Porträt der Stadt zu zeichnen, eine literarische Kartografie, ja eine kleine neue Bibliothek mit Geschichten aus der vielen Zerstörungen trotzenden Stadt. Teilnehmende Beobachtung, eine ethnologische Kardinaltugend, ist die Erzählhaltung der Autoren, die zumeist aus Sarajevo stammen, ihre Perspektive ist interkulturell. Etwa in der Story "Shakespeare wird in Sarajevo sterben" von Lejla Kalamulic, die einen Regisseur aus München in die Nachkriegsstadt schickt. Der findet gleich zwei Städte in einer Straße, die auf der einen Seite nach einer Kriegsbrigade, auf der anderen nach Shakespeare benannt ist. Die Sehnsucht nach "zeitlosen Werten" aber wird, so zeigt sich, am Ende die schlimmsten Zerstörungen überdauert haben. Ein ethnologisches Vademecum durch eine mitteleuropäische Stadt, eine literarische Vermessung ihres reichen Kulturerbes und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe der Balkankriege. Sehr empfehlenswert, für ausgebaute Bestände.