Die Aosawa-Morde

Bei einem großen Familienfest der Arztfamilie Aosawa werden im Jahr 1973 siebzehn Menschen vergiftet. Einzig Überlebende ist die blinde Tochter Hisako. Kurz darauf begeht der Mann, der die vergifteten Getränke lieferte, Selbstmord und hinterlässt Die Aosawa-Morde ein Bekennerschreiben. Die Schwester eines der Zeugen veröffentlicht zehn Jahre später nach gründlichen Recherchen ein Buch über den Mord, das zum erfolgreichen Bestseller wird. Am Ende begegnen wir Hisako, die das Augenlicht zurückerlangt hat, sind genährt von vielerlei Stimmen und Perspektiven des Mordes und bis zum Bersten voll Spannung. Alles wird geschildert in Gesprächen und Betrachtungen Beteiligter, die wie jene im Buch erwähnten Kettenkraniche (Renzuru) in vielfachen Faltungen aneinanderhängen. Es gibt keinen auktorialen Erzähler, keinen übergeordneten Standpunkt, von dem aus sich die Welt wie die Morde erklären ließen. Wer schreibt diesen Roman? Welch ungeheure Spannweite von groteskem Humor, zarter Poesie und bösem Erwachen breitet die Autorin hier aus, raffiniert gesponnen aus den Stimmen der am Geschehen und dessen Verarbeitung Beteiligten. Die Frage nach der unüberbrückbaren Kluft zwischen Betrachter und Betrachtetem, das Motiv von Sehen und Erkennen durchzieht als philosophische Spur den Roman, der auf der Höhe des modernen Erzählens steht. Wer Sätze schreibt wie „Angst ist ein Gewürz, das Glaubwürdigkeit spendet“ (S. 21) siedelt literarisch auf höchstem Niveau. Dies Niveau getroffen zu haben und eine so fesselnd wie kongeniale Übersetzung vorzulegen, ist Verdienst der Übersetzerin und Japanologin Nora Bartels. Wer sich nicht ein wenig für japanische Kultur und Gesellschaft erwärmen kann, wird womöglich von dem Buch bloß verstört sein. Alle anderen Leser/-innen jedoch können mit viel Gewinn an unterhaltendem Thrill und Atmosphäre eine so schnell nicht vergessene Lektüre erleben. Sehr empfehlenswert für alle Bestände.

Helmut Krebs

Helmut Krebs

rezensiert für den Borromäusverein.

Die Aosawa-Morde

Die Aosawa-Morde

Riku Onda ; aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium Verlag (2022)

367 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 608719
ISBN 978-3-85535-127-5
9783855351275
ca. 22,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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