Die Laute

Asis, ein dreizehnjähriger Junge im Südjemen, wird vom Blitz getroffen und dabei von der Gewalt der Musik ergriffen. Aber auch von der Liebe zu Inaja, die schöner als die Mondsichel bei Nacht ist. Ihr eifersüchtiger Bruder überfällt Asis heimtückisch und zerstört sein Gehör. Nach diesem Doppelschlag von Erwählung und Tragik beginnt eine überaus abwechslungsreiche Handlung, die sich zwischen der Hafenstadt Aden, wo Asis eine Gehörlosen-Schule besucht, und Krakau abspielt, wo er später eine Komponistenlaufbahn beginnen möchte und doppelte Fremdheit wie auch lautere Freundschaft erfährt. Der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises nominierte Roman von Michael Roes führt, mit wechselnden Erzählperspektiven, tief in die Vorstellungswelt seines Helden, der Töne produzieren, aber nicht empfangen kann. Die Musikalität und die Risiken der Gebärdensprache werden empathisch dargestellt: Wie kann man mit einfachen Gesten "so etwas Kompliziertes wie ,Unglauben', ,Liebeskummer' oder ,Todessehnsucht' ausdrücken"? Aus dem Drama des begabten und gehandicapten Kindes wird jedoch - anders als seinerzeit in Robert Schneiders "Schlafes Bruder" (1992) - in diesem Fall keine Tragödie, sondern ein interkulturelles Gleichnis über die Grenzen der Harmonie: zwischen Ländern, Menschen und Sprachen. Ein Schlüssel zum Verständnis des tieferen Sinns der Handlung ist die von Asis komponierte Marsyas-Oper, die sozusagen die Melodie des Romans liefert: Der Satyr lässt sich mit Apoll auf einen Sängerwettstreit ein, verliert ihn und wird vom Gott grausam bestraft. Marsays ist Asis' mythisches Vorbild, die Lektion ist die gleiche: Hybris kann ebenso schlimme Folgen haben wie zu großes Gottvertrauen. Ein halb märchenhaft, halb sehr realistisch erzählter Roman über Musik und Begabung, Freundschaft und Verrat zwischen den Kulturen, sehr anregend, allen Beständen empfohlen.