Einzeln sein
Was fängt man mit sich selbst an, wenn man mit sich allein ist? Wie ist das einzelne Leben ohne Gemeinschaft? Und wohin kommt man, wenn man zu sich selbst kommt? Rüdiger Safranski hat, nicht zufällig in den Lockdowns der Pandemie, ein Buch über die Vereinzelung geschrieben. Es reiht sich ein in die Reihe der geistesgeschichtlichen Porträts, mit denen er sich seinen Ruf als Deutschlands berühmtester Biograph erworben hat. Safranski kann wunderbar erzählen, Denker elegant aus ihren historischen Milieus ins Heute übersetzen. Das gelingt ihm auch in dieser Galerie von Philosophen der Individualität. Er beginnt an der Schwelle zur Neuzeit, als der Sinn für Individualität erwacht, die das Muster der Nachfolge ablöst und das Schöpferische im Menschen auslöst. Pico della Mirandola verankert die Aufgabe der Vervollkommnung in der Idee der Menschenwürde, und wo Luther in sich selbst die Kraft des Glaubens entdeckt, schwört Montaigne auf die Macht der individuellen Vernunft. Stendal wollte die Gesellschaft als Einzelner überlisten, nicht bekämpfen wie Diderot vor ihm und nicht vor ihr fliehen wie nach ihm die Waldgänger von Thoreau bis Ernst Jünger. In prägnanten Kurzausflügen erhellt Safranski die Routen, die der Individualismus durch die Geschichte bis ins 20. Jh. genommen hat, zwischen Partisanentum und Einsiedlerei, Egoismus und Existentialismus, Provokation und Abkehr von der Masse, in der jeder wie der andere ist und keiner er selbst. Eine Entdeckung der großen Lichter und kleinen Schatten des Einzeln-Seins, eine unternehmungslustige Tour zwischen Denk- und Sehenswürdigkeiten, mit ansteckender Erkenntnislust geschrieben, sehr zu empfehlen.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Einzeln sein
Rüdiger Safranski
Carl Hanser Verlag (2021)
284 Seiten
fest geb.