Lebenslinien
Die Erfahrung von Abschied und Ankunft, von Fremde und Vertrautheit, von Verlust und Neubeginn haben all die Menschen gemeinsam, deren biografischen Porträts sich diese Graphic Novel widmet. Manche hatten kosmopolitische Eltern, manche mussten aus
ihrer Heimat fliehen und konnten nirgendwo mehr Fuß fassen, bei anderen wiederum halten sich der Zwang der äußeren Umstände und forcierte Lebensplanung die Waage. Auch deshalb fallen die Definitionen der Porträtierten von "Heimat" so unterschiedlich aus: für viele ist Heimat die Nähe der Familie und der Freunde; die Dolmetscherin fühlt sich in jeder Sprache zu Hause; die Zen-Nonne ist in sich beheimatet. Ein Lehrer, dessen Kindheit von Fluchterfahrung geprägt war, lehnt den Heimat-Begriff ab; eine Frau mit ähnlichem Schicksal bietet Migranten ihre Hilfe als neue Heimat an. Diese kurzen Einblicke, die die je drei Seiten starken Biografien erlauben, können zwar keine Hintergründe beleuchten, aber die Irrungen und Wirrungen der Lebenslinien nachzeichnen. Dies geschieht im sensiblen und höchst pointierten Zeichenstil, den man an der Autorin schätzt. Ursprünglich waren die einzelnen Porträts im "Tagesspiegel" abgedruckt. Sie jetzt komprimiert in einem Buch zu bündeln, führt stärker noch vor Augen, wie disparat sich die Gefühle von Heimat und Fremde in einen Lebenslauf einprägen, sei es in immerwährendem Heimweh, sei es in der Akzeptanz des Schicksals. Eine Heimat für andere zu sein und in anderen zu finden, ist dabei das verbindende Motiv.
Dominique Moldehn
rezensiert für den Borromäusverein.

Lebenslinien
Birgit Weyhe
avant-verlag (2020)
124 Seiten : farbig
kt.