Innere Dialoge an den Rändern
Parallel zu dem stetig wachsenden epischen Werk von Peter Handke entstehen seit den späten 1970er Jahren Notate, nicht aber als Tagebuch oder als Zeugnis von Zeitgenossenschaft, sondern als Zwiegespräch mit sich selbst. „Innere Dialoge“ so nennt der Rückzugskünstler Handke seinen jüngsten Band mit diesen Eintragungen, die selten über wenige Zeilen hinausgehen. Sie umfassen Lese-Eindrücke, Gedanken über den tagwerdenden Tag und das Alleine-Streifen durch die Natur. Man braucht diese Notizen gar nicht im Fluss zu lesen. Schon beim Stromern und Stöbern fällt auf, dass hier jemand schreibt, der jeder Gesellschaft ausweichen muss, weil er es mit der Menschenlehre der „Eskapologie“ hält. Handke schreibt als einer, der das Straucheln dem Laufen, den Zorn der Wut, die Liebe dem Küssen, die Romantik der Politik vorzieht. Der so Aufschreibende kennt sich aus in der Bibel, vor allem den Evangelien, und er weiß, wie oft in Gottes Namen geteufelt wird. Ein roter Faden durch das Buch sind die Erfindungen eines elften Gebots: dass man bestürzen oder sich zum friedlichen Wilden lesen solle. Auch Corona und die Digitalisierung kommen am Rande vor; einer, der twittert, wird einmal „Horizontzwitscherer“ genannt. Einige Kalauer und schwer verständliche Lesefrüchte abgezogen, bleibt eine gute Ausbeute an poetischen Lebenseinfällen. Dieses Buch ist ein daseinsfrommer und beschreibungstüchtiger Sprachgarten, aus dem die Empfehlung wächst, statt alles anders werden zu lassen doch lieber erst einmal zu versuchen, alles anders zu sehen.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Innere Dialoge an den Rändern
Peter Handke
Jung und Jung (2022)
371 Seiten
kt.