Die Obstdiebin oder einfache Fahrt ins Landesinnere
Vielleicht muss man sich, wie der "Zeit"-Kritiker Ijoma Mangold, mit diesem Roman an einen ruhigen Ort zurückziehen, abseits des Weltverkehrs. Peter Handke praktiziert ein weltaufmerksames, naturkonzentriertes, manchmal kulturkritisch aufbegehrendes Erzählen, das auf Meditation setzt statt auf Spannung, auf den Augenblick statt auf die Erinnerung, auf Reflexion statt Psychologie. Eine regelgerechte Handlung gibt es nicht. Die "Obstdiebin" begegnet dem Erzähler, einem Einsiedler und Hagestolz, als Schlafende in einem Zug, er verfolgt ihren Weg und ihre Herkunft. In Russland hat sie ihre Mutter gesucht, nun ist sie auf dem Weg in die Picardie. Dann tritt Handkes Erzähler zurück und wir sind mit der Obstdiebin alleine unterwegs. Sie ist Natur und Frau zugleich, Migrantin im Frankreich des 21. Jh., fast mystisch begabt mit einem außergewöhnlichen Gehör und einem Sinn fürs Unerhörte; bei einer Messe, an der sie am Ende der Reise teilnimmt, geschehen Zeichen und Wunder. Und das Obst, das sie in ihre Spezialtasche aufnimmt, ist auch stets für den persönlichen Bedarf: Mundraub also, ein "krummes Ding", aber keine verbotene Frucht. Ein nachdenkliches Buch mit Sätzen, die still dahinfließen, aber tief gründen lassen. Eine wirklich gute Lektüre, nicht nur für lange Winterabende.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Obstdiebin oder einfache Fahrt ins Landesinnere
Peter Handke
Suhrkamp (2017)
558 S.
fest geb.