Bibliotheken zwischen Meinungsfreiheit und Zensur
Wie für viele Berufszweige so gibt es inzwischen auch für den Bereich des Bibliothekswesens eigene berufsethische Empfehlungen. Richtungsweisend sind der Kodex der „International Federation of Libary Associations“ (IFLA) von 2012 und – auf nationaler Ebene – die „Ethischen Grundsätze von Bibliothek und Information Deutschlands (BID)“ von 2017. Beide verstehen sich als ethische Orientierungshilfen. Gleichzeitig wollen sie das Problembewusstsein bei den im Bereich der Bibliotheken arbeitenden Menschen schärfen.
Zu den Kernaufgaben von Bibliotheken gehört es laut IFLA und BID, durch die öffentliche Bereitstellung physischer sowie virtueller und digitaler Informationsquellen die Meinungsbildung bzw. -freiheit zu fördern und den freien Zugang zu Informationen zu gewährleisten. Die öffentlichen Bibliotheken sollen auf diese Weise die persönliche Entwicklung des Einzelnen, seine Freizeitgestaltung sowie Bildung, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft fördern. Indem sie die „informierte Teilnahme an demokratischen Prozessen sowie die Festigung demokratischer Strukturen“ fördern, kommt ihnen eine unverzichtbare gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Rolle zu. Denn der freie – unzensierte – Zugang zu Informationen aller Art ist für Gesellschaften, die vom demokratischen Dialog leben, und für ihren inneren sozialen Zusammenhalt konstitutiv.
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Medienempfehlungen zum Thema Meinungsfreiheit (am Ende der Seite)
Meinungsfreiheit in der KÖB:
Das Positionspapier der Deutschen Bischöfe zur Büchereiarbeit
(PDF zum Download)
Medienlisten:
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
Wichtigste rechtliche Grundlagen für das freie Meinungs- und Informationsrecht – und damit auch für die Auftragsbestimmung der öffentlichen Bibliotheken – sind Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und Artikel 5 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland von 1949. In Art 5 Abs 1 GG heißt es: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.“ Um diese Rechte sicherzustellen endet Absatz 1 von Artikel 5 GG mit der unmissverständlichen Feststellung: „Eine Zensur findet nicht statt.“
In der Regel wird unter „Zensur“ die meistens – aber nicht immer – von politischen bzw. staatlichen Instanzen ausgeübte Kontrolle und Unterdrückung öffentlicher Meinungsäußerungen verstanden. Großenteils geschieht das mit dem Ziel, politische, religiöse oder sittliche Vorstellungen zu bekämpfen bzw. durchzusetzen, und mit der Absicht, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu bestimmen. Zensierende Beschränkungen und Verbote können vor, während und nach einer Meinungsäußerung erfolgen. Genau betrachtet ist in Art 5 Abs 1 eine Vorzensur gemeint. Es wird also ausgeschlossen, dass eine Meinungsäußerung vor deren Veröffentlichung staatlich geprüft wird. Nach Auffassung der Rechtswissenschaftlerin Gabriele Beger findet in diesem Sinne in Deutschland tatsächlich keine Zensur statt, „da jedermann in Deutschland seine Meinung frei äußern darf“.
Die Zurückweisung der Zensur durch Art 5 GG bedeutet freilich nicht, dass es ein uneingeschränktes Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit gibt. So heißt es in Art 5 Abs 2 GG: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Und Absatz 3 unterstreicht zwar ausdrücklich die Freiheit von „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre“, fügt aber ebenfalls einschränkend hinzu: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ist eben nicht absolut. Neben Regelungen des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) schränkt vor allem das Strafgesetzbuch (StGB) diese Freiheitsrechte ein. Darunter fallen zum Beispiel gemäß § 131 Abs 1 StGB Medieninhalten, die „grausame und sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten“ in gewaltverherrlichender oder -verharmlosender und die Menschenwürde verletzender Weise darstellen. Sie dürfen weder öffentlich verbreitet noch Minderjährigen zugänglich gemacht werden. Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer solche Medieninhalte „herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, bewirbt …“.
Darüber hinaus führt das Strafgesetzbuch eine Reihe weiterer Tatbestände auf, die unter ein Verbreitungsverbot fallen und damit die Meinungs- und Informationsfreiheit einschränken. So sind unter Strafe gestellt: das Aufstacheln zum Verbrechen der Aggression im Sinne des Völkerstrafgesetzbuches (§ 80a StGB), die Verbreitung von Propagandamaterial verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86 StGB) und die Verwendung von Kennzeichen solcher Organisationen (§ 86a StGB), Volksverhetzung (§1 30 StGB), die Anleitung zu Straftaten (§ 130a StGB), die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB) und die Verbreitung von Pornographie an Minderjährige (§ 184 StGB).
Ob diese strafrechtlichen Bestimmungen als zensierend angesehen werden, ist eine Frage der Definition. Im Sinne der oben vorgenommenen Begriffsbestimmung sind sie es nicht. Vielmehr sind sie Ausdruck einer Rechtsgüterabwägung seitens des Gesetzgebers und eine folgerichtige Konsequenz aus Art 2 Abs 1 GG. Dieser lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Die genannten Straftatbestände beziehen sich auf Verbreitung in der Öffentlichkeit. „Öffentlich“ sind Meinungsäußerungen, sobald sie außerhalb des Familien-, Freundes- oder auch Kollegenkreises geschehen – also unter Personen, die „nicht in einer gewissen Beziehung zu einander stehen“. Sobald jemand diesen Kreis überschreitet und Meinungen und Medieninhalte verbreitet, die mit einem Verbreitungsverbot belegt sind, erfüllt er einen Straftatbestand.
Freie Auslagen und sonstige Formen der freien Bereitstellung von Medien in bzw. durch Bibliotheken erfüllen immer den Öffentlichkeitsbegriff, nicht jedoch Medien, die im Bestand sind, aber zu denen kein allgemeiner Zugang besteht. „Deshalb müssen Medien mit strafrechtlich relevanten Inhalten im Magazin, das keinen öffentlichen Zugang hat, aufbewahrt werden.“ Gabriele Beger weist darauf hin, dass einzelnen (volljährigen) Nutzern im Rahmen der Informations- und Meinungsbildungsfreiheit trotzdem entsprechende Medien zur Verfügung gestellt werden dürfen. Hierbei handele es sich nicht um eine öffentliche Verbreitungshandlung. Eine Strafe droht insbesondere nicht, wenn die Nutzung der Wissenschaft, Kunst, Forschung und Lehre sowie der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens und der Geschichte dient.
Besonderes Augenmerk verdienen die über Bibliotheken ermöglichten Zugänge ins Internet. Wenn – z. B. aus Gründen des Jugendschutzes – Filter verwendet werden, sollten die Nutzer der Transparenz halber zumindest hierüber informiert werden. Wenn möglich können Erwachsenen und Minderjährigen aber auch unterschiedliche Zugangsquellen ins Internet angeboten werden. Viele Bibliotheken bieten inzwischen über WLAN den Zugang ins Internet an. Mit der Änderung des Telemediengesetzes (TMG) vom 13.10.2017 wurde das Haftungsrisiko von Betreibern öffentlich zugänglicher WLAN-Netze gesenkt, falls Dritte über diese Internetverbindungen Rechtsverletzungen begehen.
Gesetzliche Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit, wie die oben mit Verweis auf das Strafgesetzbuch genannten, sind nur unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen davor gefeit, keine staatliche Zensur im Sinne der aufgestellten Definition zu entfalten. Die Unabhängigkeit der Gesetzgebung (Legislative) und der Rechtsprechung (Jurisdiktion) von der ausführenden Gewalt (Exekutive) ist hierfür Voraussetzung. Gegenwärtig ist jedoch zu beobachten, wie labil die Trennung der Gewalten selbst innerhalb einiger Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sein kann. Das zeigt: Auch wenn Verfassung, Rechtsordnung und Rechtspraxis demokratischer Staaten nicht vergleichbar sind mit denen diktatorischer und totalitärer Regime, in denen Zensur und Unterdrückung elementarer Freiheitsrechte alltäglich sind, so ist dennoch auch in Demokratien Wachsamkeit geboten. Anders als journalistisch-investigative Medien („Vierte Gewalt“) haben Bibliotheken jedoch keine unmittelbare Wächterfunktion. Sie bieten aber eine wichtige Voraussetzung, dass Menschen zwischen Fakten und „Fake“ unterscheiden können und dass die Vielfalt der Meinungen und Interessen abgebildet und abgerufen werden kann. Damit Bibliotheken dieser Aufgabe gerecht werden können, sollten sich Bibliothekare und Bibliothekarinnen als „Anwälte der Informationsfreiheit und Zensurfreiheit“ verstehen und bestrebt sein, diese Freiheitsrechte gegen möglich Versuche der Beschränkung durch Dritte aktiv zu verteidigen. Sie sollten sich gleichzeitig aber auch bewusst sein, dass sie selber einer Art der Selbstzensur unterliegen können. Dies kann z. B. beim Bestandsaufbau und der Auswahl der anzuschaffenden Medien geschehen oder bei der Beratung von Bibliotheksnutzern. Eigene Vorlieben, Ansichten oder Interessen dürfen nicht ausschlaggebend sein. „Leitidee muss es sein, möglichst das gesamte Spektrum an Ideen und Vorstellungen zu repräsentieren.“
Kirchliche Büchereien stehen in einem besonderen Spannungsverhältnis: Einerseits nehmen sie Teil am besonderen Sendungsauftrag der Kirche, anderseits sind sie Teil der ortsnahen bibliothekarischen Grundversorgung der Allgemeinheit. Die Gefahr der Zensur und Selbstzensur kann im Raum der Kirche eine eigene Ausprägung haben. Dort Tätige können durch „vorauseilenden Gehorsam“ und durch die eigene „Schere im Kopf“ die Freiheit ihres Handelns und damit auch ihrer Klientel selber einschränken. Katholische Öffentliche Büchereien (KÖB) verstehen sich als Orte der Begegnung für jedermann. Wenn sie mit diesem Selbstbewusstsein und mit entsprechenden Aktionen – das können z. B. Buchpräsentationen oder Gesprächsrunden zu aktuellen kirchlichen oder gesellschaftlichen Themen sein – versuchen, Begegnung und Dialog zu ermöglichen, dann leisten sie nicht nur einen Beitrag für ihren kirchlichen Auftrag, sondern sie geben der grundgesetzlich verankerten Meinungs- und Informationsfreiheit einen Entfaltungsraum. Darüber hinaus können sie mit dieser Offenheit dem bisweilen erhobenen Vorwurf begegnen, die Kirche selber leiste der Zensur Vorschub.
Anmerkung der Redaktion:
Die Deutschen Bischöfe haben in ihrem Positionspapier „Katholische Büchereiarbeit. Selbstverständnis und Engagement“ (2021) deutlich gemacht, dass für die KÖBs der Bildungsauftrag des Konzils gilt. Sie „helfen Menschen, sich in unserer von Wissenschaft und Technik bestimmten Welt zurechtzufinden und das Weltgeschehen aus einer »umfassenden christlichen Haltung zu beurteilen und zu deuten«“, so die Bischöfe (S. 12).
Das spiegeln auch die Empfehlungen zum Bestandsaufbau wieder, die sich z.B. im Bücherei-Praxishandbuch finden: „In der inhaltlichen Auswahl des Bestandes ist ein christliches Profil geprägt von einer weltoffenen Sicht erkennbar. Mit ihrem Angebot sorgt die Bücherei für gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit und fördert zudem die Lese- und Medienkultur.“ (Quelle: Bücherei-Praxishandbuch online)
Literaturhinweise:
Heribert Böller: Wie verantwortlich handeln. Ethische Grundsätze für Büchereien, in BiblioTheke. Zeitschrift für katholische Büchereien- und Medienarbeit 3/2021, S. 34-37.
IFLA-Ethikkodex von 2012. Eine deutsche Fassung steht zur Verfügung unter https://origin-www.ifla.org/files/assets/faife/codesofethics/germancodeofethicsfull.pdf (zuletzt eingesehen am 17.01.2022.)
Verena Wiedemann: Freier Zugang zur Information als Grundrecht für eine moderne Gesellschaft. In: Barbara Lison (Hg): Information und Ethik, herausgegeben von Barbara Lison, Wiesbaden 2007, S. 17 zitiert nach: https://www.b-i-t-online.de/daten/Lpz_2007_Auszug.pdf (zuletzt eingesehen am 17.01.2022).
Hermann Rösch: Zensur und Bibliotheken – historische Reminiszenz oder Dauerthema?. In: LIBREAS. Library Ideas, 19 (2011), https://libreas.eu/ausgabe19/texte/03roesch.htm (zuletzt eingesehen am 17.01.2022).
Gabriele Beger: Zensur oder Informationsfreiheit? Rechtslage bei Medien mit strafrechtlich relevanten, jugendgefärdenden und tendenziösen Inhalten. In: Bibliotheksdienst 35. Jg. (2001), Heft 12; S. 1650f. Zitiert nach: https://www.zlb.de/fileadmin/user_upload/die_zlb/pdf/Leihverkehrszentrale/Zensur_oder_Informationsfreiheit_-_Beger__Gabriele.pdf (zuletzt eingesehen am 17.01.2022).
§131 Abs. 1 Nr 2 StGB
https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Service/entwurf-telemediengesetz-drei.html (zuletzt eingesehen am 17.01.2022).