Papst Franziskus hat einen Brief „über die Bedeutung der Literatur in der Bildung“ geschrieben, der einer Liebeserklärung an die Literatur gleichkommt. Daran sind gleich mehrere Punkte bemerkenswert: Der Papst schreibt der Literatur einen hohen Stellenwert für die Persönlichkeitsbildung zu und möchte sie stärker in der Ausbildung von Priestern und pastoralen Mitarbeitenden berücksichtigt wissen. Er erklärt, dass Literatur den Horizont der Lesenden weite, das Einfühlungsvermögen stärke und neue Perspektiven erschließe. Mit dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges bezeichnet er Literatur als ein Hilfsmittel, um „die Stimme von jemandem“ zu hören, also zuhören zu lernen. Ursprünglich hatte er bei diesem Brief die Priesterausbildung im Blick, was dem Text deutlich anzumerken ist, hat dann aber festgestellt, dass das Gesagte für alle Christen gilt. (Nr. 1)
Ausdrücklich bezieht sich Franziskus dabei nicht auf Klassiker oder eine bestimmte Literatur, sondern erzählt, dass er schon in jungen Jahren als Lehrer am Jesuitenkolleg gelernt habe, dass jeder „seinen eigenen Weg in der Literatur“ finden müsse.
„Jeder wird die Bücher finden, die sein eigenes Leben ansprechen und zu wahren Wegbegleitern werden. Nichts ist kontraproduktiver, als etwas aus Pflichtgefühl zu lesen, sich anzustrengen, nur weil andere gesagt haben, es sei wichtig. Nein, wir müssen unsere Lektüre mit Offenheit, Überraschung, Flexibilität aussuchen, uns beraten lassen, aber auch mit Aufrichtigkeit und versuchen, das zu finden, was wir in jedem Moment unseres Lebens brauchen.“ (Nr. 7)
Der Religionspädagoge Markus Tomberg, Mitglied der Jury des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises, versteht das als Auftrag an die Katholischen Öffentlichen Büchereien sowie ihre Dachorganisationen, den Borromäusverein und den Michaelsbund (siehe katholisch.de). Da Beratung und Bildung ohnehin zu unserem Auftrag gehören, ist der Papstbrief auf jeden Fall eine Steilvorlage, sozusagen eine päpstliche Empfehlung für die Büchereiarbeit!
Spirituelle Theorie des Lesens
Interessant ist auch, dass Franziskus mit diesem Brief auch auf den Rezeptionsprozess des Lesens eingeht, der darin bestehe, eigene Erfahrungen mit der Lektüre zu verbinden und damit „das Werk in gewisser Weise“ umschreibt (Nr. 3), erweitert und zu einer eigenen Welt werden lasse. Diesen aus den Literaturwissenschaften bekannten Prozess entwickelt er zu einer spirituellen Theorie des Lesens. Deren Kernpunkt: Es sei möglich, „die Gegenwart des Geistes in der vielgestaltigen menschlichen Wirklichkeit zu erkennen“ und das eben auch in der Literatur und bei der Lektüre. Denn dabei „tauchen wir in die Charaktere, die Sorgen, die Dramen, die Gefahren, die Ängste von Menschen ein, die die Herausforderungen des Lebens letztlich gemeistert haben, oder wir geben den Figuren während der Lektüre vielleicht Ratschläge, die uns später selbst dienen werden.“ (Nr. 17)
Daher kann der Papst die Literatur auch als „Zugang“ zu den Abgründen des Menschen bezeichnen, „der dem Seelsorger hilft, in einen fruchtbaren Dialog mit der Kultur seiner Zeit zu treten.“ (Nr. 13) – Und nicht nur dem Seelsorger, wie er im ersten Absatz des Briefes betont, sondern allen Christen.
Im weiteren Verlauf beschreibt Franziskus näher, was er mit diesem „Zugang“ meint. Er zitiert C.S. Lewis, der sagt, dass die Lektüre eines literarischen Textes in die Lage versetzt, „durch die Augen anderer zu sehen“ (Nr. 34). Das fördert Empathie und könne dazu beitragen, nicht vorschnell über andere zu urteilen:
„Indem sie dem Leser einen weiten Blick auf den Reichtum und das Elend der menschlichen Erfahrung eröffnet, erzieht die Literatur den Blick zur Langsamkeit des Verstehens, zur Demut der Nicht-Vereinfachung, zur Güte, nicht so zu tun, als könne man die Wirklichkeit und die menschliche Existenz durch ein Urteil kontrollieren. Sicherlich ist ein Urteil notwendig, aber man darf nie seine begrenzte Tragweite vergessen: Niemals darf ein Urteil in ein Todesurteil, in eine Auslöschung, in die Unterdrückung der Menschlichkeit zugunsten einer unfruchtbaren Verabsolutierung des Gesetzes münden.“ (Nr. 39)
Die Herzen der Menschen berühren
Für Franziskus geht damit die Ausbildung einer Fähigkeit einher, die in der gegenwärtigen Situation der Kirche entscheidend sei: Literatur helfe uns zu lernen, die Herzen der Menschen zu berühren (Nr. 21). Denn das Problem des Glaubens bestehe „heute“ nicht darin, mehr oder weniger an Lehrsätze zu glauben.
„Es geht vielmehr um die Unfähigkeit so vieler Menschen, sich angesichts Gottes, seiner Schöpfung, der anderen Menschen anrühren zu lassen. Hier besteht also die Aufgabe, unsere Sensibilität zu heilen und zu bereichern.“ (Nr. 22)
Man braucht nach den Worten des Papstes bei der Lektüre im Übrigen keine Angst zu haben, dass sie die eigene moralische Urteilskraft verwässere (Nr. 38). Im Gegenteil, Lesen sei geradezu eine Aufforderung, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, wo „die Grenze zwischen Heil und Verderben“ nicht von vorneherein festgelegt ist. Dadurch werde das Urteilsvermögen geschult (Nr. 29).
Kulturelle Diakonie
Wer die Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz „Katholische Büchereiarbeit“ kennt, wird im Papstbrief über die Literatur viele Parallelen entdecken. Der Papst entfaltet im Wesentlichen das, was in der Arbeitshilfe unter kultureller Diakonie verstanden wird. Sie - und damit die Büchereiarbeit - erfährt durch die Ausführungen des Papstes eine deutliche Bestätigung, weil er sie der ganzen Kirche Literatur zur Persönlichkeitsbildung ans Herz legt und sich nicht scheut, Literatur als Schlüssel zu mehr Empathie und zu einem besseren Verständnis dessen vorzustellen, was die Menschen unserer Zeit umtreibt.