Die Werkstatt der Wunder

Ende der 1960er Jahre macht ein nordamerikanischer Forscher brasilianische Anthropologen auf einen gewissen Pedro Archanjo aufmerksam. Als Autor einiger schmaler ethnologischer Broschüren zu Traditionen und Lebensformen der schwarzen und mestizzen Die Werkstatt der Wunder Bevölkerung verdiene dieser unbedingt Anerkennung. Daraufhin sind sämtliche Institutionen in der Stadt bestrebt, eine große Festveranstaltung zum hundertsten Geburtstag zu organisieren. Und ein junger Dichter soll biografische Daten zusammenstellen. Dies der fiktive Rahmen für eine wirre Lebensgeschichte voller Widersprüche, denn der Mulatte Pedro Archanjo ging zwar einer regulären Arbeit als Pedell der medizinischen Fakultät nach, bewegte sich jedoch in dem Prostituierten-Milieu Bahias und bekleidete ein Amt im Candomblé, dem afrobrasilianischen Kult, damals verboten und polizeilich verfolgt und zur Zeit der Erzählung immer noch schief angeschaut. Als Autodidakt hatte er sein Leben der Erforschung der afrikanischen Wurzeln gewidmet und seine Schriften traten für die Anerkennung afro-brasilianischer Präsenz in Bahia ein, worauf die Obrigkeiten mit Ächtung reagierten. Die Lebensgeschichte des Helden, Kern des Romans, steht exemplarisch für die afrikanische Geschichte der Stadt, letztlich des ganzen Landes. So breitet sich vor uns ein buntes, tropisch-exzessives Bild aus: Musik und Volkskunst, tragische Leidenschaften und humorvolle Begebenheiten, Karnevalsumzüge, die der Obrigkeit trotzen, ausgelassene Feste und die alltäglichen Sorgen der kleinen Leute. Als Kontrast erfährt der Leser von rassistischen Theorien der 1930er Jahre und ihren Urhebern und dem Versuch, noch in den 60er die afrikanischen Wurzeln des zum Nationalhelden deklarierten Archanjo zu kaschieren. - Jorge Amado (1912 - 2001), der außerhalb seines Landes bekannteste brasilianische Autor, gelingt es in diesem Roman von 1969, geschrieben unter der Militärdiktatur, einen lebensfreudigen und dennoch hochpolitischen Roman, eine Satire auf das propagierte Bild einer friedlichen Rassendemokratie, die die Vorurteile der Eliten und die Machenschaften von Medien und Politik benennt. Protagonist ist Bahia selbst, kultureller Raum für die Vitalität von totgeschwiegenen Traditionen, religiösen Riten und bunten Lebensentwürfen, Ort der ethnischen Vielfalt. Und Jorge Amado ist der kundige und enthusiastischer Chronist, der mit dieser fiktiven Dokumentation in ausbordender Fabulierlust verpackt ein Zeitzeugnis hinterlässt, dem auch junge Lesegenerationen zu wünschen ist. (Übers.: Karin von Schweder-Schreiner)

Luísa Costa Hölzl

Luísa Costa Hölzl

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Die Werkstatt der Wunder

Die Werkstatt der Wunder

Jorge Amado
S. Fischer (2012)

431 S.
fest geb.

MedienNr.: 365732
ISBN 978-3-10-001544-0
9783100015440
ca. 24,99 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
Diesen Titel bei der ekz kaufen.