Der Himmel auf ihren Schultern
Sich auf den narrativ angelegten Roman des Moskauers Sergej Lebedew (* 1981) einzulassen, bedeutet, mit einem der schrecklichsten Kapitel sowjetischer Geschichte konfrontiert zu werden. Wer ist der betagte blinde Gärtner, der die Nachbardatscha bewohnt? Ein "anständiger Mensch", also "einer von uns"? Der heranwachsende Ich-Erzähler begegnet dem "zweiten Großvater", wie er ihn nennt, mit Skepsis und ist auf Distanz bedacht. Seine in späteren Jahren erfolgenden Nachforschungen führen ihn in die nördlichsten Regionen Russlands. Indem er mit den wenigen Bekannten des in den 1990er Jahren Verstorbenen Kontakt aufnimmt, erfährt er, was er längst schon ahnte. Lagerkommandant sei jener gewesen; ein gnadenloser Herrscher über Tausende von Häftlingen, die in den Straflagern Sibiriens Unsägliches ertragen mussten. Mit dem psychologisch fundierten Porträt eines menschenverachtenden Mannes schreibt Sergej Lebedew gegen wahrgenommene Gleichgültigkeit und somit gegen das Vergessen an. Wenn er sich darüber hinaus mit dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Mensch und Natur auseinandersetzt, wirft er aktuelle zeitkritische Fragen auf. Sein thematisch brisanter, anspruchsvoller Roman sollte Beachtung finden. (Übers.: Franziska Zwerg)
Kirsten Sturm
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Der Himmel auf ihren Schultern
Sergej Lebedew
S. Fischer (2013)
331 S.
fest geb.