Im Herzen der Gewalt
Der junge Autor schildert ein für ihn zutiefst verstörendes und demütigendes Ereignis und die Folgen: Er ist in seiner eigenen Wohnung von einer Zufallsbekanntschaft vergewaltigt und ausgeraubt worden. Am Weihnachtsabend hatte der junge Homosexuelle einen Mann mit in seine Wohnung genommen. Nach einer gemeinsamen Nacht ertappt der Erzähler den Liebhaber, wie er sein Smartphone und seinen Laptop verschwinden lassen will. Es kommt zu einer längeren Auseinandersetzung, zu Gewalthandlungen einer Vergewaltigung. Louis schildert diese wenigen Stunden und ihre Folgen nicht voyeuristisch: Es geht ihm um Reflexion: seiner oft ambivalenten, teils widersprüchlichen Gefühle, seiner Reaktionen und Entscheidungen. Dazu bedient sich der junge Autor, der 2015 mit seinem autobiographischen Roman "Das Ende von Eddy"(BP/mp 15/665) auf Anhieb zum Literaturstar wurde, einer beobachtenden Erzählperspektive, in der der größte Teil des Romans geschrieben ist: Er lauscht verborgen im Flur, wie seine Schwester ihrem Mann erzählt, was er selbst ihr zuvor berichtet hat und kommentiert die Nacherzählung der Schwester. Dadurch steht nicht das Geschehen an sich im Mittelpunkt, sondern die Fragen, Zweifel und Ängste, die daraus entstanden sind. Etwa die Frage, ob er Anzeige erstatten soll, die Berichte bei Polizei und Ärzten, die dem Geschehen nie richtig gerecht zu werden vermögen, die Verarbeitung einer Erfahrung, die Louis als "Todesnähe" analysiert. Louis reflektiert hellsichtig seine Versuche, sich nicht als Opfer zu fühlen, weil erst dann die Demütigung vollkommen wird. Bei allem gibt es keinerlei Attitüde, die eigene Rolle zu erhöhen oder ein Narrativ zu spinnen, in dem die verstörenden Erlebnisse schlüssig eingeordnet werden. Louis versteht sich auf eine aufmerksame, Widersprüche akzeptierende Bestandsaufnahme und darin liegt ein großer Erkenntnisgewinn für den Leser und vermutlich besonders für Menschen, die Vergleichbares erlebt haben. (Übers.: Hinrich Schmidt-Henkel)
Gabie Hafner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Im Herzen der Gewalt
Édouard Louis
Fischer (2017)
216 S.
fest geb.