Rot

Anne Carson gilt als wisdom writer, als weise Dichterin. Als Altphilologin ist sie in den antiken Texten zuhause. Nun liegt ihre Doppelbiografie "Rot" vor. Sie besteht aus den Romanen "Die Autobiographie von Rot" und "Rot Doc>" (das ist offenbar Rot der Standardname, den der Computer der Autorin dem Dokument gab), die 1998 und 2003 in Amerika erschienen. Ihr Thema ist die Geschichte des Geryon, einem rot geflügelten Hirten aus dem antiken Mythos, der mit seinen roten Rindern und einem Hund auf der Insel Erytheia lebte, wo ihn Herakles tötete und seiner Herde beraubte. Anne Carson erzählt diese wenig bekannte Geschichte, die in Papyrusfragmenten von Stesichoros überliefert ist, einmal als Coming-of-Age-Romanze eines jungen, homosexuellen Mannes, der von seinem Bruder missbraucht wird und sich in Herakles verliebt, sodann als Roadmovie, in dem Geryon und Herkules, nun ein Kriegsveteran und Katastrophenfotograf, Südamerika bereisen. Hat man sich einmal mit den Langversen des ersten und dem schmalen Spaltenformat des zweiten Romans angefreundet, dann kann man in der Geschichte von Geryon eine sehr moderne Erzählung erkennen, die unsere Gewissheiten vom Sehen und Verstehen, von Identität und Erinnerung, von Zeit und Ewigkeit zum Wanken bringt, eine Erzählung von großer Kühnheit und Kraft. Gute Geschichten bedürfen weiser Erzähler. Anne Carson ist eine. In ein zupackendes Deutsch aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Anja Utler. Empfehlenswert!

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Rot

Rot

Anne Carson
Fischer (2019)

317 S.
fest geb.

MedienNr.: 598958
ISBN 978-3-10-397279-5
9783103972795
ca. 24,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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