Künstliche Beziehungen

Die ganze Welt ist von KI fasziniert. Die ganze Welt? Nur der junge Franzose Julien Libérat widersetzt sich der digitalen Macht. Und das auf drastischste Weise, indem er sich zu weit aus dem Fenster lehnt, und zwar mit einem schwarzumrandeten Post Künstliche Beziehungen auf Facebook sowie ferner, im unbildlichen Sinne, im sechsten Stock seiner Wohnung in der Pariser Banlieue. Mit diesem Paukenschlag beginnt Nathan Devers seinen Roman über das Schicksal eines Geeks. Das ist ein vom Internet Gebannter, der im Unterschied zum Nerd soziale Kontakte pflegt, offline wie online. Aber Julien ist so unzufrieden mit seinen Gelegenheitsjobs, dass er sich einem Online-Spiel anvertraut. Das heißt „Antiwelt“, in dem die ganze Welt bis ins Detail nachgebildet ist. Dieses Metaversum bespielt nun Libérat als bewusst hässlicher, aber äußerst findiger Avatar, der Kryptowährung scheffelt, eine persönliche Leibgarde hält und sich auf allerlei Abenteuer einlässt, die soziale und moralische Grenzen überschreiten, bis zu einem Mord. Das Spiel wiederum hat der dauerkoksende Entwickler Sterner ausgeheckt. Der Roman entwickelt ein doppeltes Spiel von Gottes- und Messiaskomplex: einerseits verirrt und verliert sich Libérat in der virtuellen Welt, andererseits gönnt ihm Sterner sensationelle Erfolge als Lyriker, zunächst im Metaversum, dann auch in der Realität des Romans. Auf diese Weise verschwimmen die Grenzen zwischen virtuellen und realen Medien, die Unberechenbarkeit in der Gaming-Kultur wird sichtbar, und die Handlung wird zusehends von religiösen Fragen durchbrochen: Wie stark ist die Versuchung der Künstlichen Intelligenz? Was löst eine vervielfachte Identität aus? Und warum soll der Name Gottes nicht missbraucht werden? Devers hat einen spannenden und aktuellen KI-Roman geschrieben, der sich satirisch oder religiös lesen oder einfach nur kritisch betrachten lässt, als Warnung vor einer Welt, in der alles wahr erscheint und nichts Wahrheit besitzt.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Künstliche Beziehungen

Künstliche Beziehungen

Nathan Devers ; aus dem Französischen von André Hansen
S. FISCHER (2024)

333 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 618601
ISBN 978-3-10-397537-6
9783103975376
ca. 26,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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