Ich?
Dieser Roman ist eine lohnende Wiederentdeckung. 1926 ist der Erstlingsroman „Ich?“ von Peter Flamm erschienen, der mit bürgerlichem Namen Erich Mosse heißt. Ein „Buchvulkan“ im „Tempo unserer Zeit“, urteilte die Kritik damals, und das trifft auch jetzt zu, wenn der S. Fischer Verlag das Buch über einen tief traumatisierten Kriegsheimkehrer wiederauflegt. Der Soldat Wilhelm Bettuch, ein gelernter Bäcker, nimmt in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs einem gefallenen Kameraden den Pass ab und fährt mit der neuen Identität des Chirurgen Hans Stern ins Berlin der jungen Weimarer Republik von 1918. Dort führt er eine medizinische Praxis, schleicht sich in Sterns Familie ein, nimmt Kontakt mit Sterns Geliebter auf. Erstaunlicherweise fällt niemandem das Verstellungsspiel auf, weder den Patienten noch der alten Mutter von Stern, noch dessen Ehefrau. Nur der Familienhund Nero wittert den fremden Eindringling. Das Besondere an diesem Roman ist die gnadenlose Sezierung der Situation, die der Ich-Erzähler Bettuch-Stern vornimmt. Seine Analyse des gefährlichen Spiels mit falschen Namen, Identitäten, Lebensläufen ist frei von Schuld und Sühne, aber nicht von Selbstzweifeln und Selbstmitleid. So wandert das Kriegstrauma in die Erzählung selbst und macht sie zu einem verletzlichen, zugleich kriegerischen Gerichtstag über das sich selbst in Frage stellende Ich, das sich am Ende von lauter schwarzen Kreuzen umringt fühlt. Ein Roman in der Sprache der Selbstverzweiflung, psychologisch dicht geschrieben von dem Autor, der in den 1930er Jahren als Psychologe in New York praktizierte und u.a. William Faulkner behandelte. Mit dem Frankfurter PEN-Vortrag des Autors aus dem Jahr 1959 und einem erhellenden Nachwort von Senthuran Varatharajah. Empfehlenswert.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Ich?
Peter Flamm
S. Fischer (2023)
157 Seiten
fest geb.