Das Genie

Der amerikanische Mathematiker William J. Sidis (1898-1944) gehört zu den vergessenen Genies. Er war einer der wenigen Universalgelehrten der Neuzeit; mit einem Intelligenzquotienten ähnlich dem von Einstein, wurde er seinerzeit mit Pascal und Gauß Das Genie verglichen. Claus Cäsar Zehrer knöpft sich dieses Superhirn aus einer ungewöhnlichen Perspektive vor. Er demonstriert ihn uns aus der Perspektive seiner übermäßig ehrgeizigen Eltern. Sein Vater Boris Sidis war ein Einwanderer aus der Ukraine, der völlig mittellos in New York ankommt, die kluge Tochter eines Getreidehändlers heiratet und als Psychopathologe und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit mit ihr den Plan einer Aufzucht des Genies entwickelt. Klar, dass der Sohn William das Versuchskaninchen ist, das Opfer. Er lernt mit sechs Monaten zu sprechen, mit anderthalb Jahren Zeitung zu lesen, mit vier den Homer. Mit sechs bringt er sich selbst Logarithmen bei. Mit elf doziert er im Mathematischen Club in Harvard. Doch auf der Schattenseite des Mustertalents stehen soziale und emotionale Verarmung. Bei den Studenten kommt der genialische Professor, der jünger ist als sie, nicht an, selbst von der schönsten lässt er sich nicht wach küssen. Dann stirbt der Vater, er verliert seine Stelle in Houston, bricht mit der Mutter. William geht zu einer Versicherung und macht einen 0815-Job. Doch Journalisten entdecken das geflüchtete Genie. Es kommt zu einem Gerichts-Prozess. Hier, am späten Höhepunkt der Handlung, stellt sich die Frage, was eigentlich besser ist: das perfekte, das normale oder das erwünschte Leben? Zehrers Roman ist die Tragödie des Wunderkindes, eine Protestgeschichte vom unbotmäßigen Wunderkind. Sehr empfehlenswert.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Das Genie

Das Genie

Klaus Cäsar Zehrer
Diogenes (2017)

649 S.
fest geb.

MedienNr.: 590211
ISBN 978-3-257-06998-3
9783257069983
ca. 25,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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