Hinter den Mauern der Ozean
Was ist hier eigentlich los? fragt sich, wer das Buch von Anne Reinicke aufschlägt. Es führt in eine total isolierte Welt, in unbestimmter Zukunft, aber an bestimmbarem Ort: Berlin. Die Stadt ist umschlossen vom Ozean, eine unüberwindbar hohe Mauer
schützt die Menschen vor der Brandung, die sie im Winter hören; im Sommer, wenn die Besucher auf Schiffen in die Stadt kommen, ist es ruhiger. Die Menschen: das sind fünf Personen, teilweise benannt nach historischen Gestalten (Friedrich, Wilhelm, Alexander, Else, Lola), die miteinander ihre Zeit verbringen und den Besuchern, die „Dienstfertige“ genannt werden, mithilfe von Übersetzern die Überlieferungen aus der sogenannten alten Zeit mitzuteilen versuchen. Alles, was zwischen dem Charlottenburger Schloss, dem Tempelhofer Feld und dem Gesundbrunnen liegt, kommt in Betracht, auch die ehemalige Staatsbibliothek. Aber was ist geblieben, wenn es keine Familie, keine Sexualität, keine Gotteshäuser mehr gibt? Und was ist es wert, überliefert zu werden? Bücher können es nicht sein, da sind nur Schriftfetzen von Brecht und Kafka. Lola baut ein pferdeähnliches, flugfähiges Schiff und schmiedet Fluchtpläne. Vieles bleibt vage in diesem pessimistischen postapokalyptischen Berlin: die Vergangenheit und die Gegenwart, die Backstories der Figuren und ihre Zukunftsaussichten, die Struktur der eingemauerten Stadt und die andere Welt hinter den Schleusen. Eine konsequent isolierte, beinahe klaustrophobische Welt ist es, die die Autorin entwirft, ein Rätselspiel für die Lesenden und im Grunde eine Zumutung für die Figuren, würden sie es zu denken wagen. Doch das bleibt uns überlassen. Lücken, Fragmente, Risse bestimmen den Roman. Eine Dystopie, die im durchaus guten Sinne zu wünschen übrig lässt.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.

Hinter den Mauern der Ozean
Anne Reinecke
Diogenes Tapir (2024)
238 Seiten
fest geb.