Opus 77
Als die Weltklassepianistin Ariane Claessens zur Beerdigung ihres Vaters, eines berühmten Pianisten und Dirigenten, Schostakowitschs Opus 77 spielt, wundern sich alle Trauergäste. Doch mit diesem Stück hat es seine besondere Bewandtnis. Ariane lässt - und das ist der Inhalt des Buches - das Leben ihrer Familie, einer Familie von erstklassigen Musikern, Revue passieren: Ihr geliebter Bruder David ist ein genialer Violinist. Ihr Vater musikalisch ein Perfektionist, als Mensch ein absoluter Tyrann, der seine Frau, eine begabte Sängerin, in den Wahnsinn treibt. Die ganze Familie zerbricht endgültig, als es zwischen Vater und Sohn zum öffentlichen Eklat kommt: Bei einem der wichtigsten Musikwettbewerbe der Welt spielt David das Opus 77 als Solist, während sein Vater das Orchester dirigiert. Kurz vor dem Ende - David ist der sichere Sieger - bricht er ab und verschwindet. - Mit viel literarischem Geschick erzählt der Autor nicht nur vom Zerfall einer Familie. Er beschreibt auch mit großem psychologischem Scharfsinn, was das Leben einer Ausnahmemusikerin für menschliche und psychische Auswirkungen hat. Bewundernswert die Empathie des Autors, mit der er sich in die Psyche einer Frau, der Hauptfigur des Romans, einzuleben weiß. Dieser Roman ist vergleichsweise kurz (knapp 220 Seiten), aber er ist ungemein dicht, fesselnd, faszinierend, für Musikliebhabende, aber auch für alle anderen Leserinnen und Leser ein literarischer Leckerbissen. Ein äußerst bemerkenswertes Buch.
Günter Bielemeier
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Opus 77
Alexis Ragougneau ; aus dem Französischen von Brigitte Große
Unionsverlag (2022)
217 Seiten
fest geb.