Vogelkind
Der Familienroman umfasst den intensiven Blick auf drei Generationen in Irland, Vater Phil, Tochter Carmel und Enkeltochter Nell. Abwechselnd erzählen diese drei Personen aus ihrem Leben. Die 22-jährige Nell, Ich-Erzählerin in ihren Teilen der Geschichte,
bricht nach dem Schulabschluss aus der Enge der Mutter-Tochter-Beziehung aus in ein ungeregeltes Leben mit Alkohol, Drogen, Sex, um wieder in eine Abhängigkeit zu geraten, ein Mann, der es letztlich nicht ernst mit ihr meint. Sie rettet sich erneut durch Flucht zur Mutter, nach London, auf den Kontinent. Im Zentrum ihrer Erzählung stehen immer wieder ihr Sexualleben, ihre Auseinandersetzung mit dem unbekannten Dichter-Großvater, mit dessen Gedichten und das Interesse an Vögeln. Von der Mutter erfahren die Leser:innen, dass Nell mehrere Uni-Abschlüsse hat, viel Geld verdient, um lange Auszeiten für Dinge, die ihr wirklich wichtig sind, nehmen zu können, so auch die Reise nach Australien/ Neuseeland/ Bali, von der Nell (im letzten Kapitel) erzählt. Ihre Mutter Carmel ist vom geliebten Vater, dem Dichter Phil McDaragh, verlassen worden, als sie 12 Jahre alt war. Mit 16 Jahren hat sie noch einen Brief erhalten, sie sieht ihn erst wieder, als sein Leichnam zur Beerdigung nach Irland zurückkehrt. In mehreren Kapiteln werden ihr Leben zusammen mit der älteren Schwester und der kranken Mutter, dann ihre Flucht nach Italien, ihre Rückkehr und ihre berufliche Entwicklung beschrieben. Sie bekommt eine Tochter, Nell, die sie allein großzieht. Ein Mann findet keinen Platz in ihrem Leben. Der Vater beschäftigt sie immer wieder, ihr Bild von ihm passt gar nicht zur offiziellen Biografie des Dichters. Nach dem Verlust des Vaters fällt ihr dann das Loslassen der Tochter ungeheuer schwer. Ihr Vater kommt einmal zu Wort, er erzählt von der Enge seiner Kindheit durch Aberglaube und Kirche, aus der ihn Bücher befreiten – vielleicht ein Versuch der Erklärung seines Fluchtverhaltens zu und weg von Frauen Zeit seines Lebens. Alle Frauen, mit denen Phil eine Beziehung eingegangen ist, erscheinen in seinen Gedichten – oft als Vogel, Carmel, seine Lieblingstochter, war sein "Vogelkind". – Ein empfehlenswerter Familienroman.
Barbara Schürmann-Preußler
rezensiert für den Borromäusverein.

Vogelkind
Anne Enright ; aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag (2025)
302 Seiten
fest geb.