Kreis ohne Meister
Weitaus spannender als die Biographie von Stefan George (1868-1933), der als elitärer Dichterlehrer, charismatischer Ästhet, politisch nicht festzulegender Geistesheroe und umstrittener Prophet des Nationalsozialismus in die Literaturgeschichte eingegangen
ist, ist seine Nachwirkung. Sie besteht in dem zwischen intellektuellem Geheimbund und nationalkonservativem Netzwerk schillernden "George-Kreis". Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, hat sich auf die ideengeschichtliche Entdeckungsreise durch das Nachleben Georges gemacht und die Deutungskämpfe seiner Jünger um das geistige Erbe des Dichters bis 1968 rekonstruiert. Es sind verschlungene, exzentrische, oft genug apokryphe, fragmentarische, in Archiven verborgene und nur aus mündlichen Mitteilungen erschließbare Geschichten von einem Kreis, der nicht damit fertig wurde, seinen Meister im Schicksalsjahr 1933 verloren zu haben, und diesen Verlust der Mitte durch manche Legendenbildung kompensierte, z.B. die Interpretation des 20. Juli als "Geschichtszeichen aus dem Geist Stefan Georges". Die Geschichten des Einflusses des George-Kreises auf die Reformpädagogik (z.B. Hartmut von Hentig), auf die Politik (Familie von Weizsäcker), auf die Geschichtsforschung und Soziologie (Ernst Kantorowicz, Erich von Kahler) sind akribisch recherchiert, mit Brillanz und Eleganz erzählt, manchmal etwas zu suggestiv vielleicht, um ihnen bedingungslos Glauben zu schenken. Aber Raulffs Buch erhebt nicht den Anspruch, die Geheimnisse des Kreises zu lüften, der offenbar mehr Selbstinterpretation der "Apostel" und Zerfallsgeschichte war als historisch haltbare und dauerhafte Geistesgruppenbildung, der aber ein hoch anregendes geistiges Porträt der Epoche liefert. Raulffs Studie ist ein sehr lesens- und diskussionswertes Kapitel aus der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Anspruchsvolle, faszinierende Lektüre.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.

Kreis ohne Meister
Ulrich Raulff
Beck (2009)
544 S. : Ill.
fest geb.