Die Tiefe
Von den sechs Geschichten des renommierten, mehrfach preisgekrönten amerikanischen Autors erzählen, anders als man es bei einer Short-Story gewohnt ist, nur zwei von geläufigen Alltagsereignissen. Ein junges Pärchen versucht lange Jahre vergeblich, ein Kind zu bekommen, und quält sich durch alle Finessen der modernen Reproduktionsmedizin. Ein Junge, mit einem Herzfehler geboren, wird von der besorgten Mutter in Watte gepackt und versäumt darüber fast das Leben. Die anderen vier Geschichten dieses beeindruckenden Erzählbandes haben durchaus ungewöhnliche Ereignisse als Themen, und spielen überdies auf verschiedenen Kontinenten. Zum Beispiel: Tausende Menschen irgendwo in China müssen ihre angestammte Heimat verlassen, weil ein gigantischer Staudamm gebaut wird. Eine alte Frau weigert sich bis zum Schluss ihr Haus zu verlassen. In der ihr zugewiesenen modernen neuen Wohnung wird sie nicht glücklich. Um schreckliche Erinnerungen geht es in der letzten Geschichte, in der sich eine Jüdin an der Schwelle des Todes an ihre Kindheit in Deutschland und die Judenverfolgung erinnert. Alle diese meisterhaft erzählten Geschichten berühren und ergreifen den Leser unmittelbar, weil er sich in den lebensnah und psychologisch feinfühlig gezeichneten Gestalten so völlig wiederfindet. Sie lesen sich wie der Beleg für den im Vorwort formulierten Satz von Luis Bunuel: "Ohne Gedächtnis sind wir nichts." (Übers.: Werner Löcher-Lawrence)
Helmer Passon
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Die Tiefe
Anthony Doerr
Beck (2017)
265 S.
fest geb.