Die Versehrten

Mylia leidet unter starken Schmerzen und will mitten in der Nacht in eine Kirche gehen. Ihr früherer Freund und Mitinsasse einer Nervenklinik beabsichtigt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ihr Ex-Mann, der Arzt Theodor Busbeck will in der gleichen Die Versehrten Gegend jener namenlosen Stadt eine Prostituierte aufsuchen. Ein zwölfjähriger behinderter Junge sucht verzweifelt nach dem Vater. Er kommt in die Hände eines ehemaligen Frontsoldates. Alle sind sie einsam und jeder auf seiner Art versehrt. Es ist ein düsterer Roman, eingeteilt in 32 Kapitel, jedes betitelt mit den Namen der Figuren die jeweils auftreten, als würde sich immer wieder die Bühne öffnen für die nächste Szene, wo die wenigen Protagonisten miteinander oder auch gegeneinander in immer neuen Kombinationen agieren. Der Verlauf der Kapitel gehorcht nicht einer Chronologie, doch durch häufige Rückblenden und leicht veränderte Wiederholungen gelingt es dem Leser, Bezüge herzustellen bis zur letzten Auflösung. Thematisch kreist dieser Roman des portugiesischen Autors Gonçalo M. Tavares um Wahnsinn und Gewalt. Theodor widmet sein ganzes Leben der Suche nach einer "Formel, die die Auswirkungen der Gräueltaten zusammenfasst" (S. 45) und die zugleich das Grauen in der Welt voraussieht. Mit demselben nüchternen wissenschaftlichen Blick weist er seine schizophrene Frau in eine Nervenklinik ein, lässt sie dort viele Jahre leben und nimmt ihr schließlich das neugeborene Kind weg. Theodors Studienobjekt - "die Verrücktheit des Bösen im Verlauf der Geschichte" (S. 145) - entpuppt sich als der Kern dieses Romans. Das Böse, materialisiert in Horrorfotos und Statistiken für Forschungszwecke, nimmt in den Beziehungen unter den Figuren konkrete Form an. Es gelingt Tavares gerade in seinem kühlen, nüchternen Erzählton das Böse zu versprachlichen, das subtil, in einer Art perverser Höflichkeit, die Beziehungen bestimmt. Und der Erzähler nimmt uns nicht an die Hand. Der Diskurs bewertet nicht, moralisiert nicht, als gäbe es weder Schuld noch Unschuld. Der Roman liest sich, als würde man die Figuren und ihre Verhaltensweisen, Gedanken und Absichten aus der Distanz anschauen. Und es verstört, dass man sich in einem ideologiefreien, amoralischen Raum zu bewegen scheint. Das Böse wird weder offensichtlich noch schockierend, sondern wissenschaftlich, sozusagen wertfrei vorgeführt. Im Gegenzug könnte sich beim Leser die Frage nach dem Ort des Guten stellen, im Menschen und in der Welt. Ein sehr tiefsinniger, sprachlich leicht zugänglicher Roman, dessen Inhalt und Form deutungsoffen sich entwickeln und zur Reflexion provozieren. Sehr empfehlenswert, auch als erste Lektüre eines vielschichtigen, vielversprechenden Werkes eines jungen Autors (*1970). Auch die Übersetzung von Marianne Gareis ist sehr gelungen.

Luísa Costa Hölzl

Luísa Costa Hölzl

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Die Versehrten

Die Versehrten

Gonçalo M. Tavares
Dt. Verl.-Anst. (2012)

236 S.
fest geb.

MedienNr.: 358756
ISBN 978-3-421-04502-7
9783421045027
ca. 19,99 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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