Das Vorkommnis
Auf einer Lesereise geschieht es: beim Signieren ihres Buches erklärt eine fremde Frau der Autorin, sie hätten denselben Vater. In einer emotionalen Anwandlung fällt die Autorin der Fremden schluchzend um den Hals, um sich sofort im Anschluss wie üblich mit dem Veranstalter zum Essen zu begeben. So beginnt das "Vorkommnis". Ob es sich tatsächlich so abgespielt hat, was es in der "Ich"-Erzählerin auslöst und welche Auswirkungen es auf das weitere Leben hat, reflektiert die Autorin erst Jahre später. Zunächst verbringt sie ein Auslandslehrjahr an einer US-Kleinstadtuniversität, mit "dem älteren Kind", "dem Baby" und ihrer Mutter, die als Geschiedene ein neues, gesellschaftlich aktives Leben führt, während der Vater zuhause schwer an Krebs erkrankt, die Schwester dort kümmert sich. Die Ehe der Eltern, die Situation ihrer Mutter, das andere Kind aus einem Bratkartoffelverhältnis des Vaters, von dem man irgendwie doch immer schon wusste, die Kindheit in der DDR, die Liebe zum eigenen Mann, die Veränderungen, Verunsicherungen, die mit der Zeit entstehen, das Verhältnis zur "richtigen" Schwester, zu den eigenen Kindern, all das erinnert, wägt, hinterfragt die Erzählerin, während sie über Jahre ein Antwortschreiben auf einen Brief der Halbschwester vor sich herschiebt. - "Klarsichtig, empfindsam und präzise", so der Klappentext; "distanziert, schwergängig, ohne dass der Funke überspringt" empfand die Rezensentin diesen hochgelobten Roman.
Elisabeth Bachthaler
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Das Vorkommnis
Julia Schoch
dtv (2022)
Biographie einer Frau ; Erstes Buch
191 Seiten
fest geb.