Der Heilige im Alltag oder vom Swing der Dinge
Welche Rolle spielt das Heilige in einer vom Alltäglichen möblierten Zeit, in der Arnold Stadler zufolge die Ikea-Kataloge mehr Leser haben als die Bibel? Der Verleger Axel Matthes gibt Antwort in einer umfänglichen Anthologie. Ihre Grundlage ist breit genug, um die Sonden für das Heilige nicht nur im Kosmischen, in Visionen und Lebensgrenzerfahrungen ausfahren zu lassen, sondern auch in scheinbar gewohnten Situationen, in Naturerlebnissen und menschlichen Begegnungen. Tenor der Auskünfte, die der Herausgeber fleißig aus der europäischen Literatur mehrerer Jahrhunderte ausgewählt hat, ist: Das Heilige sei kein Monopol Gottes, sondern habe seinen Ursprung im "Lebendigen", das als etwas Besonderes, das nicht von dieser Welt ist, also als etwas Transzendentes erfahren werden könne. Der "senkrechte Einbruch des Göttlichen" (Nicolás Gómez Dávila) ereignet sich im ersten Augen-Blick eines neugeborenen Kindes als "Ahnung eines gewaltigen Blicks" (László Földényi) oder bei der Beobachtung einer Sonnenfinsternis 1842, die Adalbert Stifter fragen lässt, ob der Schöpfer die Naturgesetze so wie ein "glänzendes Kleid" trage, das er selten "lüften" müsse, so "daß wir ihn selbst schauen". - Wenn auch nicht alle Texte (Aphorismen, Prosa, Gedichte, Briefe, Notate) direkt einen Heiligkeitsbezug aufweisen, etwa im Sektor "Tonleiter der Liebe", so wird doch ersichtlich, wie sehr das Heilige die "Farbe der Poesie" (Michel Leiris) hat, wie gefährlich die Heiligung der Gewalt ist und welche Verarmung der Verlust transzendenter Symbole mit sich bringt. Eine reichhaltige und ergiebige Lektüre, allen Beständen empfohlen.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Der Heilige im Alltag oder vom Swing der Dinge
ges. von Axel Matthes. [Botho Strauß ...]
Diederichs (2012)
572 S. : Ill.
fest geb.