Der naive und der sentimentalische Romancier

Anna Karenina liest im Zug ein Buch, kann sich aber nicht richtig darauf konzentrieren, sie denkt an den gut aussehenden Offizier Wronski und schaut aus dem Fenster. Am Beispiel des Romans von Tolstoi zeigt der 1952 in Istanbul geborene, 2006 mit dem Der naive und der sentimentalische Romancier Nobelpreis ausgezeichnete Schriftsteller Orhan Pamuk, was eigentlich im Leser vorgeht, wenn er einen Roman liest: Im glücklichen Fall versetzt er sich so sehr in die Figur, dass er mit ihr fühlt und sieht und leidet. Wie dies beim Schreiben bewerkstelligt wird und im Lesevorgang funktioniert, wird anhand anderer Beispiele aus der Weltliteratur und aus Pamuks eigenen Romanen ebenso anschaulich wie lehrreich vorgeführt. Dabei wird auch die Grenze der Empathie mit Figuren erkundet, die uns eben nicht ansprechen. Vorbild für Pamuks Modell ist Schiller: Dem naiven Autor bzw. Leser ist nicht bewusst, was beim Schreiben oder Lesen vor sich geht, dem sentimentalischen schon. Im Idealfall kommen beide Rollen überein, das Fiktive erscheint realer als die Realität, Bekanntes und Reales gewinnt den Anstrich des Fiktiven, der Autor hat die Geschichte, die er erzählt, erfunden und zugleich erlebt. Und das Faszinierende, das einen guten Roman von trivialen Texten und traditioneller Genreliteratur abhebt, ist sein geheimes Zentrum, von dem aus jedes Detail interessant wird. So sind Romane für Pamuk ein probates Mittel, um zu einem tieferen Verständnis der Welt zu kommen. Anders gesagt: Anna Karenina kann den Roman im Zug nicht lesen, damit wir in ihrer Seele - in Tolstois Roman - lesen können. Ganz im Geiste von Horaz, ein profundes Plädoyer für Erzähler als Maler mit Worten - allen größeren Beständen empfohlen.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Der naive und der sentimentalische Romancier

Der naive und der sentimentalische Romancier

Orhan Pamuk
Hanser (2012)

172 S.
fest geb.

MedienNr.: 359549
ISBN 978-3-446-23884-8
9783446238848
ca. 16,90 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Li
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