Vaters Stimme
Nina, Ende 40, lebt in Hamburg, ist beruflich erfolgreich und glücklich, dem schnöden Ort ihrer Kindheit auf der Schwäbischen Alb schon als Studentin entkommen zu sein. Ihr zehnjähriger Sohn Lenny wächst nach einer Trennung der Eltern bei seinem
Vater auf und ist zwar regelmäßig, aber doch eher selten bei Nina zu Besuch. Nina selbst ist komplett ohne Vater aufgewachsen. Er hat ihr gegenüber zwar zuverlässig seine Pflichtzahlungen geleistet, wollte jedoch nie persönlichen Kontakt. Als Lenny plötzlich darauf drängt, seinen Großvater kennenzulernen, nimmt Nina, auch aus einem tiefliegenden eigenen Bedürfnis, Kontakt zu ihrem leiblichen Vater auf. Der Kontaktwunsch wird entgegen ihrer Erwartung freudig erwidert. Nina besucht ihren Vater Hans bald regelmäßig in seinem Dorf auf der Schwäbischen Alb und taucht über die Erzählungen des alternden Mannes in dessen Leben ein. Die erste Zuneigung wandelt sich in Skepsis und Enttäuschung, als Nina klar wird, dass es unmöglich ist, die Vergangenheit nur aus der Retrospektive anderer zu rekonstruieren. - Mit außergewöhnlicher Genauigkeit und tiefgründiger Menschenkenntnis entwirft Tanja Schwarz Charaktere, die beim Lesen so real werden, dass man fast glaubt, ihnen selbst begegnet zu sein. Dabei betreibt sie das Gegenteil von Schwarzweiß-Malerei und lässt jede ihrer Figuren mit ihren individuellen Stärken und Schwächen zutiefst menschlich wirken. Auf überaus hohem Sprach- und Wortschatzniveau wird so eine deutsche Generationengeschichte erzählt, die beispielhaft für viele andere sein dürfte, jedoch in dieser Präzision das Banale zum Bedeutsamen aufwertet.
Elisabeth Brendel
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Vaters Stimme
Tanja Schwarz
hanserblau (2023)
332 Seiten
fest geb.