Im Dunkeln gekritzelt
Können Gedichte spannend sein? Man verbindet mit der Lyrik eher Etiketten wie Schönheit, Trost, Besinnlichkeit, Traurigkeit oder Heiterkeit, aber "Spannung" ist keine Stimmung, die man mit Gedichten verbindet. Der schon seit vielen Jahrzehnten in den USA lebende und aus Serbien stammende Lyriker Charles Simic aber verblüfft immer wieder mit Gedichten, bei denen die aufmerksamen Leser gespannt auf den Schlussvers warten. Zum Beispiel das Gedicht "Oh großer bestirnter Himmel": "Wohin unsere Gedanken gehen/ wie Bibelverkäufer von Tür zu Tür,/ nur damit man ihnen die Tür/ vor der Nase zuschlägt." Ausgangspunkt dieser in Form und Sprache fast immer traditionell gehalten Gedichte sind oft Alltagsbanalitäten, Dinge, die es eigentlich nicht wert sind, mit einem Gedicht beehrt zu werden. Titel wie "Kirschkuchen" oder "Verirrtes Huhn" oder "Picknick" erwartet man nicht in einem Gedichtband. Ein Gedicht trägt den rätselhaften Titel "Mitternachtsfliegenfänger": "Habe mich zugedeckt/ mit Worten./ Jede Nacht wieder/ zugedeckt/ In Erwartung/ des großen Schwamms". Den Lesern dieser kleinen, feinen, immer sehr hintersinnigen Gedichte bleibt es überlassen, dazu eigene Interpretationen zu finden. Ist der "Schwamm" nur ein Bild für einen Tiefschlaf nach getaner Arbeit, nach ermüdender Tageslektüre? Oder sogar ein Bild für den Tod, der einen auch in jeder Nacht ereilen kann? Wer die Lektüre von Gedichten scheut, weil sie angeblich so schwer verständlich, so hermetisch verschlossen seien gegenüber der Gegenwart, mit denen wir uns täglich mühevoll herzumschlagen müssen, sollte sich einmal die Gedichte von Charles Simic anschauen.
Carl Wilhelm Macke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Im Dunkeln gekritzelt
Charles Simic ; aus dem Englischen von Michael Krüger und [einer weiteren]
Hanser (2022)
161 Seiten : Illustration
fest geb.