Als lebten wir in einem barmherzigen Land

Anna, in ihrer Jugend Straßenaktivistin und in ihrer Gruppe für Ideale kämpfend, unterrichtet zum Erzählbeginn als Grundschullehrerin in Schottland und ist erfüllt davon, ihre Zöglinge zu wachen, kritischen Personen heranzuziehen. Das Märchen Als lebten wir in einem barmherzigen Land Rumpelstilzchen nutzt sie, um den Kindern vor Augen zu führen, dass dem Bösen begegnet werden kann, wenn man es beim Namen nennt. Das Böse, das Stilzchen, das ist für sie ein ehemaliges Gruppenmitglied, Buster, der sich als V-Mann entlarvt hat. Ihn trifft sie bei einem Prozess, wo eine vergangene Nichtigkeit aufgeklärt werden soll, wieder und jagt ihn fortan durch die Stadt. Sie treffen schließlich aufeinander und Anna trifft die Entscheidung, dass Hass nicht das letzte Wort behalten soll. - Ein Kunstgriff ist, dass die Geschichte aus zwei Perspektiven, der der Ich-Erzählerin Anna und der des Ich-Erzählers Buster, erzählt wird. Das "personifizierte Böse" ist in der anderen Lesart ein Getriebener, Verletzlicher. Buster will sich wenden, will für das Gute eintreten - die Verhältnisse verkehren sich. Brexit, Pandemie, Kapitalismus - Kennedy schöpft schonungslos aus dem Topf der Krisen und etliche Namen, die fallen, sind mit aktuellen Begebenheiten und Personen assoziiert. Sprachlich sprechen die Erzähler aus zwei Mündern zum Leser, was nicht nur durch die Schriftart, den Stil, sondern auch durch zwei getrennte Übersetzer verdeutlicht wird. Der Roman ist sowohl inhaltlich als auch in seiner engagierten Sprache anspruchsvoll. Ein wütendes und eindrucksvolles Zeitzeugnis.

Christine Vornehm

Christine Vornehm

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Als lebten wir in einem barmherzigen Land

Als lebten wir in einem barmherzigen Land

A. L. Kennedy ; aus dem Englischen von Ingo Herzke und [einer weiteren]
Hanser (2023)

461 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 613918
ISBN 978-3-446-27624-6
9783446276246
ca. 28,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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