Gedicht für den unvollkommenen Menschen
Die aktuelle politische Aufmerksamkeit für Israel steht in keinem Verhältnis zur Aufmerksamkeit für literarische Neuigkeiten aus diesem Land. Ganz besonders trifft diese Beobachtung auf die Lyrik-Szene in Israel zu. Schon der Titel des jetzt in der "Edition Lyrik Kabinett" erschienenen Bandes von Ari Mishol motiviert aber für eine Lektüre: "Gedicht für den unvollkommenen Menschen". Die Eingangszeilen des Gedichts für den ‚unvollkommenen Menschen' lauten: "Mit Makeln behaftet wie er ist geliebt bedauert/ wie er eben ist wütend und gespalten/ hungrig durstig zürnend wollend schwebend/ über den Abgrund der Tiefe…". Überhaupt sind die Titel der hier versammelten Gedichte von großer Originalität, oft nicht ohne ironischen Unterton. "Wie du mit dem Navi zu mir kommst" oder "Linke Hemdtasche" oder "Was mir die Wahrsagerin gesagt hat". Erstaunt ist man, dass in diesen aufgewühlten Zeiten der Gewalt in Israel hier ein Gedichtband publiziert wird, in dem eine ganz andere, auch leichtere israelischen Kultur aufscheint. Vielleicht ist auch das die besondere Bedeutung dieses Gedichtbandes: man muss sich bei der Lektüre nicht zu irgendwelchen politischen Positionen bekennen, sondern kann sich ganz einfach freuen, eine so sprach- und phantasiestarke Schriftstellerin kennenzulernen, die in ihrer hebräischen Sprache schreibt, einer Familie von Shoah-Überlebenden entstammt und vielleicht gerade deshalb ungemein lebensfreudige Lyrik für "unvollkommene Menschen" schreibt.
Carl Wilhelm Macke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Gedicht für den unvollkommenen Menschen
Agi Mishol ; aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Hanser Verlag (2024)
Edition Lyrik Kabinett ; Band 56
106 Seiten
fest geb.