Der vergessliche Riese
"Was machst du denn hier, Freund?" Mit diesem Satz wird der Autor neuerdings von seinem Vater begrüßt. Lange Zeit hatten sie nicht viel Kontakt zueinander, der Vater war viel unterwegs, auch im Ausland. Doch jetzt, wo auch dessen zweite Frau Claire verstorben ist, braucht er Hilfe, weil ihm sein Leben entgleitet. Seine drei Kinder wissen, dass die beginnende Demenz des Vaters nicht aufzuhalten ist. Sie sorgen für polnische Betreuerinnen, die bei ihm leben, später für den Umzug in ein Altersheim. Der Autor besucht ihn regelmäßig, fliegt aus Berlin an den Rhein, wo der Vater lebt, zu Weihnachten, oder wenn wieder einmal eine Fahrt zur Beerdigung eines nahen Verwandten ansteht. Geduldig geht der Sohn auf die immer gleichen Fragen ein. Ein Großteil des Textes wird in wörtlicher Rede gehalten, dadurch kommt die Komik und Drastik der Situation unmittelbar zum Ausdruck. Berührend sind die Szenen, wenn der Erzähler die Hand des Vaters nimmt, die ihm wie eine Kinderhand vorkommt, und er erinnert sich an die Zeit, als sie ihm wie die Hand eines Riesen erschienen ist. - David Wagner erzählt von der sich umkehrenden Vater-Sohn-Beziehung, wie die dominante Vaterfigur sich immer mehr zum hilflos-schwachen Kind zurückverwandelt. - Ein berührendes Buch. Sehr gerne allen Beständen empfohlen.
Karin Blank
rezensiert für den Borromäusverein.
Der vergessliche Riese
David Wagner
Rowohlt (2019)
268 Seiten
fest geb.