Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
Die Liebes-Prosa des inzwischen über neunzigjährigen Martin Walser wird immer knapper, konzentrierter, hat aber nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Dass das Erotische seit Längerem gelegentlich ins Obsessive umschlägt, kann man als komischen Effekt verbuchen, der in der neuen Erzählung (Roman wäre bei 120 Seiten zu viel gesagt) gut durchschlägt. Der da von sich schreibt, ist ein zwanghaft zum Philosophen gewandelter Oberregierungsrat. Er hat eine Eselei begangen, eine übergriffige Handlung bei einer Praktikantin. Walser meidet hier allzu aktualistische Anspielungen auf die #MeToo-Debatte. Im Kern geht es ihm um die Suche des alternden Mannes nach seinem Ort bei den Frauen, in der Welt und der Religion. Gegen allseitige Missverständnisse wappnet sich der Selbstdenker mit einem Universalismus des Sinnlichen, einem Vermutungsstil, mit Märtyrergeschichten, Engeln, "Gott als Rettungsring", mit Gedichten - und einem Blog. Und das ist der eigentliche Coup dieses Buches. Es besteht aus Briefen an eine unbekannte Geliebte, einen Adressaten im Netz, der oder die Anlass für ein eindringliches Selbstgespräch ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist dieses lesenswerte Buch über den alten Mann und die Liebe.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
Martin Walser
Rowohlt (2018)
106 S.
fest geb.