Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
Oberregierungsrat Gottfried Schall ist ein Mann in den sogenannten Besten Jahren. Er lebt angepasst, sehr kontrolliert und versucht an der Seite seiner Frau und mit Hilfe einer Geliebten, seinem Leben etwas Farbe abzugewinnen. Da begeht er eine unbedachte Handlung, die ihm als sexuelle Belästigung ausgelegt wird. Von der nachfolgenden Empörung fühlt sich Schall überrollt, von den Medien zu Recht nicht immer fair behandelt. Statt Ruhe zu bewahren, zieht er jedoch den Schluss "ihr macht mich zum Deppen, dann bin ich auch der Depp" und verhält sich so irrational, dass an seinem Geisteszustand gezweifelt wird. Damit liefert er seinem Dienstherren die Gründe für eine vorgezogene Pensionierung. Seines Berufes beraubt, verschwindet Gottfried Schall und wird zu "Justus Mall", dem Erzähler des Stückes. Er ist jetzt Philosoph, denkt über alles und nichts nach und schreibt seine Gedanken einer imaginären Geliebten, bei der er Verstehen sucht. Der Briefroman klingt streckenweise langatmig und fordert Geduld. Der scheinbar ernste Seitenhieb auf die Me Too-Debatte klingt sehr nach selbstmitleidiger Quengelei, in der der alte Mann bedauert, dass ihn die jungen Frauen halt provozieren. Spätestens hier muss der Hörer entscheiden, ob er den Roman ernst nehmen will oder als Satire betrachten will. Das mag auch daran liegen, dass der Autor seinen Roman selbst liest. Zwar wird damit deutlich, dass die Briefe an die Geliebte am besten als Selbstgespräche verstanden werden, die der Protagonist mit sich führt. Spannender oder interessanter wird das Stück aber dadurch nicht. Die CD kann in Büchereien mit großem Bestand als Bestandsergänzung eingestellt werden.
Leoni Heister
rezensiert für den Borromäusverein.
Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
Martin Walser
Argon (2018)
argon edition
3 CD (ca. 213 Min.)
CD