Tagebuch vom Ende der Welt
Mit dem 24. Februar 2022, dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat sich das Leben der Ukrainer, aber auch vieler Russen radikal geändert. Zu diesem historischen Ereignis existiert inzwischen eine große Zahl an journalistischen, historischen und politikwissenschaftlichen Büchern. Auch über den Alltag der von dem Krieg unmittelbar betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainern wissen wir relativ viel. Wenig oder überhaupt nichts haben wir jedoch von dem Leben der russischen Bevölkerung in den Zeiten des Krieges gegen die Ukraine erfahren. Die Mehrzahl der Russen, so hört und liest man es immer wieder, würde den Angriffskrieg von Putin unterstützen. Aber stimmt das wirklich, was uns die Propaganda des Putin-Regimes ständig vermittelt? Das Tagebuch der Schriftstellerin und alleinerziehenden Mutter Natalja Kljutscharjowa widerspricht eindeutig dem Bild von einer den Krieg unterstützenden russischen Bevölkerung. "Jetzt sagen viele: es ist eine Schande, Russe zu sein". Oder: "Jetzt wird dieses Land in einen Strudel gezogen, den seine eigene Gewalt erzeugt hat. Und wer sich der Gewalt verweigert, geht weg oder versteckt sich". Ganz besonders beklemmend sind die Schilderungen angstvoller Alltagsszenen. Verhaftungen, Einschüchterungen, Denunziationen, gewalttätige Repressionen sind in dem Russland, in dem die Autorin gezwungen ist, zu leben, an der Tagesordnung. Man kann verstehen, dass man jenseits der Ukraine und von Russland nichts mehr hören und sehen will von diesem Gemetzel. Aber die Lektüre dieses im Umfang kleinen, in seinem Inhalt jedoch großen "Tagebuch vom Ende der Welt" zeigt, dass wir uns diesem Konflikt mit allen seinen schrecklichen Auswirkungen stellen müssen. Für Russinnen wie Natalja Kljutscharjowa ist der Krieg, der nicht in ihrem Namen geführt wird, eine einzige große Katastrophe.
Carl Wilhelm Macke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Tagebuch vom Ende der Welt
Natalja Kljutscharjowa ; aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt
Suhrkamp (2023)
140 Seiten
kt.